MALMOE

Gefahren einseitiger Geschichten

Der 7. Oktober aus einer queeren arabisch-jüdischen Perspektive

Ich schreibe dies aus einer schweren Wolke der Depression, die mich eingehüllt hat und an die ich mich in den letzten +250 Tagen gewöhnt habe. +250 Tage, seit die Hamas ihre Unmenschlichkeit mit dem Überfall auf Israel demonstriert hat. +250 Tage, seit der Iran und seine Stellvertreter, die Hamas, der islamistische Dschihad, die Huthis und die Hisbollah, alles tun, um die UN-Resolution 181 von 1947 aufzuheben. +250 Tage, seit sich der Antisemitismus einmal mehr als die stärkste Kraft erwiesen hat, die Menschen vereint, die sich sonst nicht tolerieren würden.Ich schreibe nicht, um irgendeine Gewalt oder all die Maßnahmen, mit denen die israelische Regierung auf diese Angriffe reagiert hat, zu rechtfertigen. Ich schreibe aus der Not heraus, weil ich mich weigere, mich von populistischen, überidentifizierten Stimmen zum Schweigen bringen zu lassen. Als öffentliche Person, als Künstler:in, als Angehöriger:in von Minderheiten fühle ich mich gezwungen, über unbekannte, unterrepräsentierte, komplexe und widersprüchliche Realitäten zu berichten. Ich schreibe als pro-palästinensische und pro-israelische, arabisch-jüdische, queere, working poor/class Geflüchtete in der dritten Generation, die in dem elitären Kunstfeld Wiens lebt und arbeitet. Ich schreibe gegen white washing von jüdischen Menschen, zum Legitimieren von Antisemitismus. Ich schreibe, weil ich auf eine Komplexität des Austauschs bestehe, eine Erzählung, die mehrere Geschichten und widersprüchliche Realitäten enthält. Ich erfahre diese Komplexität als ein Geflecht von Geschichten, die sich ständig weiterentwickeln – manchmal parallel verlaufen, sich überschneiden oder mit anderen verweben und gelegentlich sogar ihre Wege beeinflussen. Lasst mich Euch ein paar Anekdoten erzählen, die euch ermutigen sollen, der gängigen binären Geschichtsschreibung zu widersprechen und euch für das Selbstbestimmungsrecht von Palästinenser:innen und Israelis einzusetzen.

Komplexe Geschichten

Ich wurde in Beit Dagan, einem Dorf im Herzen Israels, geboren. Bevor das Vereinigte Königreich im Jahr 1920 die Mandatsherrschaft über Palästina erhielt, lebte in Beit Dagan neben Christen und Juden eine muslimische Mehrheit. Während der „Großen Arabischen Revolte“ (arabisch: al-Thawra al- Kubra – nicht Intifada) gegen das britische Mandat von 1936 bis 1939 wurden die muslimischen Einwohner:innen von britischen Soldaten gezwungen, das Dorf zu verlassen und in die benachbarten Städte Ramla und Lod zu ziehen. Der Anführer dieses Aufstands war kein Geringerer als der Nazi-Sympathisant Amin al-Husseini. Er wurde von den Briten in den Irak, eine weitere ihrer Kolonien, verbannt. Dort leitete er 1941 Farhud, eine Reihe von Pogromen gegen irakische Juden. Später ging er nach Deutschland und trat dort der NSDAP bei. Im Jahr 1950 kehrte er zurück, um den arabischen Widerstand gegen den jüdischen Staat zu organisieren. Bereits damals brachte er den Satz „From the River to the Sea“ in Umlauf. In dem Dorf Beit Dagan fanden unterdessen jüdische Flüchtlinge aus Polen, Bulgarien und Ägypten Unterschlupf. Die zogen später dann in die neu errichteten umliegenden Städte, aber 1949 füllte sich das Dorf erneut mit jüdischen Flüchtlingen, die nun aus Jemen oder Marokko kamen. Warum ist es nicht möglich, die Frage zu klären, wem dieses Land rechtmäßig gehört? Macht es einen Unterschied, dass Beit Dagan bereits in der Bibel erwähnt wird? Woher kommt der Drang, das eine dem anderen gegenüberzustellen? Und an alle Genoss:innen, die weiterhin auf Dämonisierung und Entmenschlichung sowie auf polarisierende Polemik setzen, die Hetzreden zur Rechtfertigung von Gewalt schwingen: Dieser Konflikt wird weiter eskalieren und es wird immer schwieriger, Frieden und Sicherheit zu verwirklichen. Die Menschen werden nicht auf magische Weise aus dieser Region verschwinden. Ich frage mich, was eure Motivation ist? Was ist aus unserem Paradigma „Wer hier ist, ist von hier“ geworden?

Geschichte wiederholt sich: 
 „Alle hassen die Juden“

Ich wurde 31 Jahre nach der UN-Resolution 181 geboren, worin die Teilung des britischen Mandatsgebiets Palästina in einen separaten jüdischen Staat (Israel) und einen arabischen Staat beschlossen wurde. Jordanien, Ägypten und Libanon sowie das erste Arabische Hohe Komitee lehnten die Teilung ab, was zur Militarisierung der Region führte, eine Situation, die bis heute andauert. Und ich bin mit der Vorstellung aufgewachsen, dass „jede:r die Juden hasst“. Das war Alltagsverstand, eben das Normale. Oder vielleicht sollte ich besser sagen, dass meine Erziehung, wie die vieler anderer Menschen in dieser Region, abnormal war. Eine Abnormalität, die eine lange Geschichte hat: „Denn nicht einer allein ist aufgestanden, um uns zu vernichten, sondern in jeder Generation steht man gegen uns auf, um uns zu vernichten.“ Dies ist ein Teil der Pessach-Haggada, deren Ursprung auf das 5. Jahrhundert v. u. Z. zurückgeht. Sie wird während des Pessach-Seders rezitiert und beschreibt den Weg des jüdischen Volkes aus der Sklaverei zur Freiheit. In einer säkularen Formulierung: Geschichte wiederholt sich – vergesst das nicht. Bevor Herzl sein Buch schrieb, habe ich von meinen Großeltern Geschichten über die brutalen Lebensbedingungen im Jemen gehört. Ihre Lebensbedingungen wurden immer unerträglicher, bis sie schließlich zum sicheren Ort Israel flohen. Bei einem meiner Familienbesuche im Kfar Yuval im Norden Israels zeigte uns mein Onkel ein leeres Haus im Zentrum des Dorfes, in dem die meisten Bewohner:innen 1975 von Terroristen erschossen worden waren. Ein Baby überlebte, weil es in der Waschmaschine versteckt war. Kfar Yuval wird derzeit evakuiert und die Felder stehen wegen der anhaltenden Angriffe der Hisbollah in Flammen.
Ich war 8 Jahre alt, als 1987 die erste Intifada begann, ein Aufstand gegen die Stagnation bei der Lösung des palästinensischen Nationalismus, der sich vor allem gegen israelische Zivilist:innen richtete, mit Selbstmordattentaten und anderen Terroranschlägen in ganz Israel. Ich war 11 Jahre alt, als wir während des Golfkriegs 1991, als Saddam Hussein Israel bombardierte, überall Gasmasken tragen mussten. Es folgte die zweite Intifada im Jahr 2000, der erste Libanonkrieg und der zweite und noch viel mehr. Traurigerweise wurde mein Aufwachsen von „Itbach al-Yahud“_ beherrscht, einem arabischen Ausdruck, der „die Juden abschlachten“ bedeutet. Wenn ich über die Gewalt in Israel schreibe, bedeutet das nicht, dass ich die Gewalt ignoriere, die die Palästinenser:innen erfahren. Der eine Schmerz und das eine Trauma schließen das andere nicht aus, ganz im Gegenteil. Solange Palästina und Israel das Selbstbestimmungsrecht des jeweils anderen nicht anerkennen, werden israelische und palästinensische Extremisten diesen Teufelskreis der Eskalation und Gewalt fortsetzen.

Am 14. März 2024 organisierte MALMOE mit Sheri Avraham und Daniel Sanin den Talk Antisemitismus als Bedürfnis in der W23, den Heide Hammer moderierte. Grundlage war Daniel Sanins gleichnamiger Artikel aus MALMOE #106. Jetzt drucken wir die Perspektive von Sheri Avraham ab.