MALMOE

„Ernsthaft, Herr Richter, 
in der heutigen Zeit?!“

Ein Interview mit Sylvia Köchl über ihr Buch Delikt Abtreibung. Frauenarmut, ungewollte Schwangerschaften und illegale Abbrüche, das 2024 im Mandelbaum Verlag erschienen ist. In dem Buch wird anhand von Gerichtsakten zu Abtreibungen (von 1923 – 1974) die Realität von Frauen beleuchtet, die sich keine ärztliche Abtreibung leisten konnten.

Immer noch werden Abtreibungen weltweit kriminalisiert. Davon nicht ausgenommen ist Europa: Polen hat eines der restriktivsten Abtreibungsgesetze in der EU. Das Recht auf Abtreibung wurde dort soweit ausgehöhlt, dass Abtreibung de facto verboten ist. In den USA wurde das verfassungsmäßig garantierte Recht auf Abtreibung aufgehoben. In Österreich ist Schwangerschaftsabbruch zwar weiterhin strafgesetzlich verboten, aber in den ersten drei Monaten „straffrei“. Abtreibungsgesetze sind eine Form patriarchaler Gewalt, die ungleiche Machtverhältnisse zwischen Geschlechtern aufrechterhält und das Selbstbestimmungsgesetz von Frauen massiv beschneidet. Das Gespräch mit Sylvia Köchl lässt erahnen, was es bedeutet, in einer Gesellschaft leben zu müssen, in der Schwangerschaftsabbruch verboten ist.

Was war deine Motivation, das Buch zu schreiben?

Über die historischen Details von Abtreibungen in der Illegalität im 20. Jahrhundert ist wenig bekannt. Das erste Mal las ich in Gerichtsakten für mein erstes Buch Das Bedürfnis nach gerechter Sühne (2016), was mich sehr neugierig machte. In solchen Akten stehen nämlich sehr viele Details über die ungewollt schwangeren Menschen. Und interessant ist, dass die Leute immer sehr viel darüber wussten, wie sie an eine Abtreibung kommen konnten. Die Illegalität führte nie dazu, dass das geheim war, sondern nur dazu, dass die Strafverfolgung drohte. Deshalb lautete eine meiner Fragen: „Wie haben sie das gemacht?“

Wie untersucht man etwas, das so alltäglich und gleichzeitig ein Verbrechen war?

Um ein Beispiel zu nennen: Wie haben die Menschen vor der Zeit des Telefons Kontakt aufgenommen? Oftmals kam es vor, dass eine Frau von einer Person hörte, die Abtreibungen vornahm, und sie die Adresse auf einen Zettel schrieb. Irgendwann später benötigte sie dann eine Abtreibung, nahm den Zettel und ging einfach hin. Oft handelte es sich dabei aber nur um Straße und Hausnummer. Dann wurde geschaut, ob es in der Nähe ein Wirtshaus gab, und dort konnte man fragen, wo genau die besagte Person in dem Haus wohnte. Das beschreibt Anton Tantner ganz wunderbar in seinem Text „Suchen und Finden vor Google“ – dass nämlich Kellner:innen und Wirt:innen Drehscheiben des Adressenwissens waren.

Was haben Frauen aus ländlichen Gegenden gemacht? Beim Lesen deines Buches entsteht der Eindruck, als wäre gerade die Weitergabe von Adressen ein Akt der Solidarität gewesen?

Ja, es war sicher so, dass die meisten Menschen sich gegenseitig mit Informationen geholfen haben. Ungewollt Schwangere haben sich umgehört und erkundigt und bekamen üblicherweise einen Kontakt vermittelt – und im Umland wurde häufig nach Wien vermittelt. Frauen ebenso wie Männer haben alle darüber geredet und Infos gesammelt, denn gerade unter armen Menschen war die Frage, wie eine weitere Schwangerschaft das Fortkommen und das Leben beeinträchtigen würde, wichtig. Es war ja meist nicht nur die Frau allein betroffen, sondern eine ganze Familie, die sich überlegen musste, ob sie sich das nächste Kind leisten konnte. Die meisten Frauen in den von mir gelesenen Akten sind verheiratet, Anfang 30 und haben Kinder.

In deinem Buch geht es um Abtreibung in Verbindung mit Frauenarmut. Warum?

Armut wird von der Armutskonferenz Österreich als Mangel an Möglichkeiten definiert. Neben finanzieller Armut kommt bei Frauen der Mangel an Möglichkeiten in jeder Hinsicht hinzu. Es geht nicht nur um finanzielle Probleme, sondern auch darum, was sie sein dürfen, lernen können und werden dürfen. Hoffentlich können sich Mädchen von heute das gar nicht mehr vorstellen.

Wie liefen dann die Ermittlungen der Kripo wegen einer Abtreibung ab?

Seitens der Frauen wurde fast immer sehr schnell ein Geständnis abgelegt, entweder bei der Polizei oder spätestens vor Gericht. Wenn man sich die Situation vorstellt, dass manchmal erst Monate nach der Abtreibung ein Polizist vor deiner Tür steht und dich zu deinem Unterleib befragt, dann ist das verständlich, finde ich. Aber wie erfuhr die Kriminalpolizei überhaupt davon? Das war eine der Fragen, die ich mir gestellt habe. In etwa der Hälfte der von mir recherchierten Gerichtsfälle haben Spitäler die sogenannte „Pflichtanzeige“ wegen einem „verdächtigten Abortus“ gemacht – denn leider mussten viele Frauen nach der Abtreibung für eine Curettage ins Krankenhaus. Dann kam die Kripo und machte schon am Krankenbett die erste Befragung. In den anderen Fällen kamen die Anzeigen aus dem privaten Umfeld – und zwar nicht anonym, sondern persönlich in der nächsten Wachstube. Dabei ging es sehr häufig um privaten Ärger, dem Luft gemacht wurde.
Bei den weiteren Ermittlungen spielte der Ort, an dem die Abtreibung durchgeführt wurde, und die Person der Abtreiberin eine wichtige Rolle: Wenn eine Abtreiberin „häufige“ Frauenbesuche hatte, war das z.B. ein manifestes Verdachtsmoment für die Kriminalbeamten. Dazu kommt, dass viele Abtreiber:innen bereits „einschlägig“ vorbestraft oder zumindest „polizeibekannt“ waren. Die Kripo zeigte dann aber alle, die aus ihrer Sicht mit der Abtreibung irgendetwas zu tun hatten, bei der Staatsanwaltschaft an – Ehemänner, Lebensgefährten, Freund:innen usw. standen schnell im Verdacht der Mittäter*innenschaft. Dafür reichte die Weitergabe von Informationen oder das Bezahlen des Honorars.
Und vor Gericht war klar, dass ein Geständnis zu geringeren Strafen führte. Interessant ist, dass Frauen oft versuchten, den Ehemann oder Partner aus der Sache herauszuhalten. Das Gericht hätte einen Mann nämlich eher eingesperrt als eine Frau, aus rein patriarchalem Denken, dass er die treibende Kraft gewesen sein musste. Denn eine gemeinsame Entscheidung für eine Abtreibung war für die Richter undenkbar.
Politische Argumente kommen in meinen Akten übrigens genau zweimal vor: 1923 und 1969. Da haben verurteilte Frauen Berufungen verfasst und quasi geschrieben: „Ernsthaft, Herr Richter, in der heutigen Zeit?!“

Wie wurden Abtreibungen während des Nationalsozialismus behandelt und bestraft?

In gewisser Weise lief Vieles weiter wie zuvor. Weiterhin sind Leute ungewollt schwanger geworden und weiterhin war Abtreibung ein Verbrechen. Relativ schnell wurden die Strafen aber am oberen Ende des Strafrahmens ausgesprochen. Zuvor im Austrofaschismus kam es zu einer Gesetzesverschärfung, die sich gegen die Abtreiber:innen richtete, aber die Nazis haben es nie geschafft, ein eigenes Strafgesetzbuch umzusetzen. Nach 1945 trat übrigens das während des Austrofaschismus verschärfte Gesetz in Kraft, das dann bis 1975 galt. Die Nationalsozialist:innen selbst ergriffen andere Maßnahmen. Einerseits war zusätzlich zur Kripo auch die Gestapo für das Verbrechen der Abtreibung zuständig und mit der Einrichtung der Sondergerichte konnte sogar die Todesstrafe verhängt werden. Sondergerichte waren – als Ergänzung zu den Volksgerichtshöfen – für „nicht-politische Straftaten“ zuständig. Wobei es im Fall von Abtreibungen ganz dezidiert um den „Schutz der deutschen Volksgemeinschaft“ ging, die durch Abtreiber:innen angeblich bedroht war.
Ich erzähle in meinem Buch deshalb auch bewusst den Fall einer Abtreiberin, die nicht zum Tod, sondern zu acht Jahren Gefängnis verurteilt wurde, weil sie nur Abtreibungen an Tschechinnen begangen habe, die, wie das Sondergericht Wien meinte, nicht so schlimm waren.
Das war die bedrückendste und schlimmste Zeit, über die ich gearbeitet habe. Aber auch danach, in den Fällen aus den 1950er- und 60er-Jahren, beißt dir die Nazizeit permanent in den Arsch. Am Ende meines Buches, als die Strafrechtsreform bereits beschlossen ist, gibt es noch einen letzten Fall, der sich bis ins Jahr 1974 zieht. Und bei der Gerichtsverhandlung belehrt der Richter noch die Frau und sagt, sie solle sich im Klaren sein, dass ein Schwangerschaftsabbruch auch nach dem 1.1.1975 verboten ist. Ein unwürdiges Ende für eine unwürdige Geschichte.

Wie war es für dich, über das Thema Schwangerschaftsabbruch zu schreiben, das ja immer noch so umstritten ist?

Anders als zu der Zeit, mit der ich mich befasst habe, gibt es heute gute Verhütungsmittel und können Schwangerschaftsabbrüche mit Medikamenten durchgeführt werden. Doch die Situation, dass eine Frau nach einer Abtreibung ins Krankenhaus kommt und von der Polizei verhört wird, gibt es immer noch, z.B. in Polen. Auch die Diskussion über Schwangerschaftsabbrüche in österreichischen Krankenhäusern, bei der trotz eines säkularen Staates die Kirche öffentlich mitredet, ist dreist. Der legale Abbruch in den ersten drei Monaten wird nicht als etwas Normales vermittelt. Nur in Wien ist es z.B. möglich, den Eingriff von der Stadt bezahlt zu bekommen, sonst ist er sehr teuer, weil er ja privat bezahlt werden muss. Das kann sich erst ändern, wenn der Abtreibungsparagraf ersatzlos aus dem Strafgesetz gestrichen ist und der Abbruch zu einer normalen Leistung der Krankenversicherung wird.
Aber es ist sehr ermutigend, dass es seit Herbst 2023 das breite Bündnis „Aus Prinzip“ gibt, wo genau das gefordert wird. Nach 50 Jahren Fristenregelung wäre es jetzt höchste Zeit. Ich bin jedenfalls guter Hoffnung.