MALMOE

Eine, zwei, drei, viele „Intifadas“?

Relativierung von antifaschistischem Widerstand zur Legitimierung 
des gewaltsamen Kampfes gegen Israel

Am 6. Mai 2024 postete die Wiener Gruppe „Judeobolschewiener:innen“ auf Instagram einen Beitrag mit der Überschrift „Was bedeutet ‚Intifada‘?“ Sie erklären, „Intifada“ stünde „Arabisch für Aufstand“, weshalb der Warschauer Ghettoaufstand 1943 auch eine Intifada gewesen sei. Abgesehen davon, dass es sich um einen klassischen Paralogismus handelt – „Alle Schwäne sind weiß. Hans ist weiß. Hans ist ein Schwan“ –, ist damit eine neue Stufe der Shoah-Relativierung erreicht. Im Zusammenhang mit der (Neu-)Formierung der globalen Anti-Israel-Bewegung seit dem 7. Oktober 2023 ist das kein Einzelfall. „Die verzerrte Darstellung des Begriffs ‚Intifada‘ ist gezielte zionistische Propaganda“, so die Autor:innen des Postings weiter. Damit beziehen sie sich auf den spezifischen Kontext der ersten und zweite Intifada (ab 1987 und 2000). Die Motivation hinter dieser Gleichsetzung: Die palästinensischen „Intifadas“ aus einer spezifischen historischen Konstellation – dem Konflikt zweier um dasselbe Territorium konkurrierender Nationalbewegungen plus den jeweils sehr eigenen Interessen diverser anderer Akteure – herauszulösen und zu universalisieren. Zugleich werden der Schoah und dem heroischen (weil vollkommen aussichtslosen) Widerstand durch die Aufständischen des Warschauer Ghettos die Singularität und Präzedenzlosigkeit abgesprochen.

Inhärente Fehlschlüsse

Das alles ist kein bloßer Betriebsunfall von ansonsten emanzipatorisch gesinnten Linken, sondern ein dem in dieser primitiven Weise rezipierten postkolonialen Paradigma leider inhärenter Fehlschluss. Damit soll nicht der „multidirektionalen Erinnerung“ (Michael Rothberg) ihre Berechtigung und Notwendigkeit abgesprochen werden. Im Gegenteil muss sie momentan eher vor manchen ihrer Apologet:innen gerettet werden, die einzig auf eine Nivellierung aller historischen Kontexte und Differenzierungen abzielen, um Israel zu delegitimieren beziehungsweise den gewaltsamen Kampf gegen Israel zu legitimieren. Der Kipppunkt im Verhältnis westlicher Linker zu Israel ist das Jahr 1967. Israel wird zur Besatzungsmacht im Westjordanland und im Gazastreifen – und ein qualitativ neuer, in dieser Intensität bisher nicht dagewesener, israelbezogener Antisemitismus zieht in die westliche „Neue Linke“ ein. Im November 1969 etwa verübten Mitglieder der linken Terrorgruppe „Tupamaros West-Berlin“ einen Brandanschlag auf das Jüdische Gemeindehaus in der Berliner Fasanenstraße. Doch schon vor 1967 agitierten palästinensische Studierende an westlichen Universitäten ihre linken Kommiliton:innen, wie etwa Joseph Ben Prestel gezeigt hat. So wurde die palästinensische Perspektive auf die Staatsgründung Israels und die Ereignisse des Jahres 1948 (ins kollektive palästinensische Gedächtnis eingegangen als „Nakba“) mit dem Vokabular des Anti-Kolonialismus und Anti-Imperialismus in Anlehnung an die anti-kolonialen Bewegungen Algeriens, Vietnams oder Kubas für linke Studierende anschlussfähig.

Kampf um Deutungshoheit

Seit dem 7. Oktober 2023 können wir live verfolgen, wie tief dieses stark dichotomisierend und selektiv argumentierende Narrativ bereits in weite Teile der globalen Anti-Israel-Bewegung eingesickert ist und sich beständig radikalisiert.
Bestärkt wird diese Narration etwa von Judith Butler, die bereits 2006 Hamas und Hisbollah zu progressiven Bewegungen innerhalb eines globalen emanzipatorischen Projekts verklärte. Der Angriff der Hamas wird so für Butler zu einem Akt des „bewaffneten Widerstandes“, den sie zwar für falsch halte, der aber weder antisemitisch noch als Terrorismus zu verstehen sei, sondern allein im Kontext der jahrzehntelangen Gewalt gegen Palästinenser:innen stünde. Seyla Benhabib, seit den späten 1960er Jahren Unterstützerin des Selbstbestimmungsrechts der Palästinenser:innen, entgegnet, dass die Hamas eine „nihilistische Organisation [sei], die die Zivilbevölkerung des Gazastreifens als ihre Geisel behandelt.“ Folgerichtig beschreibt sie den 7. Oktober als Wendepunkt nicht nur für Jüdinnen und Juden innerhalb und außerhalb Israels, sondern auch für die Palästinenser*innen, die sich nun von der Geißel der Hamas und ihrer Ideologie befreien müssten.
Die israelische Soziologin Eva Illouz, eine dezidierte Kritikerin der israelischen Regierung, schildert ihr Entsetzen angesichts der Reaktionen auf das „Verbrechen gegen die Menschheit“, das am 7. Oktober stattgefunden habe: „[…] ich glaubte auch, dass das politische Lager, das am meisten von den Gräueltaten abgestoßen sein würde, meine eigenen Leute wären, die Linken. Nun nicht mehr.“ Den von Butler und anderen angebotenen vereinfachenden, dichotomisierenden und de-kontextualisierenden Interpretationen des Massakers vom 7. Oktober erteilt sie eine Absage: „[…] wir haben es hier mit mehreren miteinander verwobenen und sich gleichzeitig entfaltenden Narrativen ohne feste ursächliche Verbindung zu tun: Etwa einer verbitterten kolonialen Auseinandersetzung zwischen Juden und den einheimischen Palästinensern im letzten Jahrhundert, und quer dazu den völkermordenden Absichten der Hamas […].“

Legitimierung von 
Delegitimierung

Das wird die Apologetinnen des Hamas-Terrors kaum überzeugen, wie manche der Kommentare unter dem Posting der „Judeobolschewienerinnen“ belegen.
Eine neue Qualität hat dieser Relativismus auch deshalb, weil nun nicht mehr – wie wir das aus der Vergangenheit schon kennen – Handlungen der IDF mit NS-Verbrechen gleichgesetzt werden. Vielmehr wird hier die Gegenwart auf die Vergangenheit projiziert und die Shoah so zu einem antikolonialen Kampf umgedeutet. Das spezifische ideologiegetriebene Vernichtungsprogramm des NS-Apparats spielt dabei keine Rolle mehr. Der Zweck aber – egal in welche Richtung der Vergleich geht – bleibt der Gleiche: Der gewaltsame Kampf gegen Israel (als „Kolonialstaat“, „Apartheidregime“ und so weiter) soll legitimiert werden, indem er mit historischen Vorläufern eines (tatsächlichen emanzipatorischen) Widerstandes in Zusammenhang gebracht wird, deren Legitimität niemand anzweifeln kann. Nebenbei entlastet dieser krude Geschichtsrevisionismus von jüdischen Gruppen wie den „Judeobolschewiener*innen“ auch noch nicht-jüdische anti-imperialistisch gesinnte Linke in Österreich/Deutschland von ihrer „german guilt“, was sicher manchen nicht ungelegen kommt.