MALMOE

Der Fall Sayyid Qutb 
und die falsche Situiertheit

Wer ist Sayyid Qutb? Und weshalb sollte seine „kritische“ Stimmen gegen den „Westen“ nicht aus der Mottenkiste hervorgeholt werden? Bei Sayyid Qutb (1906-1966) handelt es sich nicht nur um einen Chefideologen der Muslimbruderschaft, sondern auch um einen Autor, der seine Ideengeschichte mit der Neuen Rechten in Europa teilt und mit Hitler sympathisierte.
Es mag verwundern, dass ein Autor, der rechtes Gedankengut von Europa nach Ägypten übersetzte, auch „linken“ Denker*innen als Stichwortgeber dient. Etwa der Philosophin und Benjamin-Forscherin Susan Buck-Morss. Sie stellt in Thinking Past Terror (2003) Gedanken über die Ost-, Westbeziehung vor dem Hintergrund des Terroranschlags von 9/11 an. Sayyid Qutb wird ihr zum widerständigen Subjekt, zum radikalen Denker aus dem „Osten“ gegen das „Establishment“ (den „Westen“). Da geht es nicht mehr um Solidarität, sondern um eine romantisierte Darstellung von Situiertheit und Widerständigkeit. Dieser Verkürzung gilt es zu entkommen und politische Intentionen wieder in den Vordergrund zu bringen.

Kritik am Kolonialismus

Wenn ich die Situiertheit von Stimmen erwähne, ist es besonders (queer-)feministischen und postkolonialen Theorien zu verdanken, dass der Einfluss von Patriarchat und Kolonialismus auch auf Wissensproduktion nachvollzogen wurde. Es wurde ersichtlich, dass Wissen durch Auslöschung und absichtlicher Ignoranz verloren gegangen oder in den Hintergrund gefallen ist. Heute sprechen wir von „Epistemizid“. Dagegen muss die Relevanz von „nicht-westlichen“ Stimmen betont werden. Die Dominanz bestimmter Denksysteme und Bevölkerungsgruppen kann jedoch, so will ich zeigen, nicht in einer Waagschalenlogik aufgehoben werden, sondern muss auf ihre Problemlösungsstrategien überprüft werden.

Westlicher Abendlandmythos

Bevor ich näher auf Sayyid Qutb eingehe, möchte ich ideengeschichtlich den Begriff des „Westens“ vorstellen. Der Westen, Occident, oder auch das Abendland sind seit deren erstmaligen Auftreten im Zuge des Zerfalls des römischen Reiches in Ost und West, in Byzanz und Rom stets einem politisch motivierten Bedeutungswandel unterworfen gewesen.
Nach dem Schisma waren es zunächst Vertreter der Konservativen Revolution – Vordenker der Neuen Rechten – die das Abendland als Gegenentwurf zur Trennung von Kirche und Staat nach der französischen Revolution prägten.
Heute hingegen meint die Einteilung vornehmlich den Gegensatz zwischen Westen und Islam. Laut dem Historiker Volker Weiß ist das Narrativ „hier die Welt der Vernunft, der Wissenschaft und des selbstbewussten Individuums, dort die des Affekts, der Religion und der amorphen Masse.“ Die dafür auserkorene Erklärung, dass es in islamischen Staaten keine Aufklärung gab, darf mit Skepsis betrachtet werden, da moderne Staatsformen (etwa das Präsidialsystem in der Republik Iran) etabliert wurden sowie eine geisteswissenschaftliche Aufklärung stattfand.
In der Kreierung des Morgen- und Abendlandes wurde im 20. Jahrhundert aber jenes Narrativ der Trennung oder Einheit von Kirche und Staat prominent aufgegriffen, um die jeweils eigene Identität zu wahren. Während die Begriffspaare heute vor allem in ihrer Abgrenzung zueinander konzeptualisiert werden, wiesen sie zu Beginn eine Familienähnlichkeit auf: die Reichsidee, also die Idee eines übernationalen Gottesstaats.
Weiter losgelöst von seiner ursprünglichen Agenda meint der Kampfbegriff des Abendlandes heute eine dezidiert europakritische Haltung und beinhaltet prorussische Elemente, was in Anbetracht der einstmaligen Bedeutung absurd erscheint.

Wer ist Sayyid Qutb?

Sayyid Qutb war der ehemalige Propagandachef der Muslimbruderschaft und Ideengeber der Al-Qaida. Der vom Nasser-Regime 1966 in Ägypten zu Tode verurteilte Lehrer und Literat verfasste in seiner langjährigen Haft einen umfangreichen Koran-Kommentar. Dieser belief sich auf 4016 Seiten, weshalb 1964 die kondensierte Fassung Wegzeichen aufgelegt wurde. Letztere erreichte eine breite Leser*innenschaft.
In Wegzeichen zeichnet Qutb eine dystopische Diagnose der Gesellschaft. Diese sei der „Natur des Menschen“ nicht angemessen. Der soziale, geistige und ethische Verfall werde durch die moderne Technik vorangetrieben, etwa durch Radio, Nachtleben und Kinos. Die wachsende Verantwortungslosigkeit zeige sich anhand der Frauenrechte, die Frauen zu egoistischen Geschöpfen statt liebenden Müttern degradiere, und der wachsenden Homosexualität. Besonders großen Einfluss auf sein Denken nahm dabei der Franzose und Nobelpreisträger Alexis Carrel (1873-1944), ein konservativer und rechter Vordenker.

Alexis Carrel

Bereits während des Vichy-Regimes erlangte der Arzt Alexis Carrel politische Einflussnahme. Heute gilt er der französischen, rechtspopulistischen Partei Front National als geistiger Vater. Carrel entwirft in seinem „Sachbuch“ Der Mensch, das unbekannte Wesen (1935) ein rassistisches Weltbild, das eine positive Eugenik fordert, um die „weiße Rasse“ zu retten. Das Populärwerk wurde in 19 Sprachen übersetzt und eine Million Mal aufgelegt.
Qutbs Wegzeichen ist bis ins Innerste durchzogen vom biopolitischen und holistischen Denken Carrels und insbesondere der Lektüre von Der Mensch, das unbekannte Wesen. Der Rechtskonservative Denker Carrel prägt so wiederum Al-Qaida und die Muslimbruderschaft.

Stichwortgeber im rechten Europa des 20. Jahrhunderts

Die Konstellation von Neuer Rechter und Radikalislam hat also eine miteinander verflochtene Ideengeschichte. Die Achse Qutb—Carell—Front National ist nur ein Beispiel davon. Rechte sowie Radikalislamistinnen beziehen sich auf Antidemokratinnen, die am Beginn des 20. Jahrhunderts reaktionäre Antworten auf sich aufdrängende Probleme der Moderne formulierten. Darüber hinaus gibt es aber auch politische Kooperationen – historisch oder wie zuletzt, als die FPÖ 2023 der Taliban einen Besuch abstattete.

Die Kulturrevolution kommt 
von allen Seiten

Heute lautet die Parole der Neuen Rechten „Stoppt den großen Austausch“. Demnach ist eine Verschiebung von der Angst um die stärkere Geistigkeit der Anderen hin zu jener vor Überfremdung zu notieren. Die regressive Bewegung, welche sich in der Gegenwart wesentlich in Islam-fundamentalistisch und rechtsextrem verzweigt, versteht sich als Kulturrevolution. Diese Kulturrevolution kommt von allen Seiten.
Was sagt uns das über den Fall Sayyid Qutb? Eine Philosophin sucht nach Stichwortgebern aus dem „Osten“, um einer situierten Stimme Gehör zu verschaffen. Diese situierte Stimme ist aber nicht nur in einem räumlichen Kontext lokalisiert, sondern auch in einem politischen. Wenn Buck-Morss Qutb zitiert, zitiert sie nicht nur eine nicht-westliche Stimme, sondern zugleich eine anti-feministische, antisemitische und homophobe Stimme.

Zum Weiterlesen und Hören:
Marc Thörner (2017): Rechtspop und Dschihad. Dok 5 – Das Feature; WDR 5.
Volker Weiß (2018): Die autoritäre Revolte. Die Neue Rechte und der Untergang des Abendlandes, Klett-Cotta, Stuttgart.