Interpol wird hundert und will das in Wien feiern, an dem Ort, wo die Geschichte der Organisation 1923 begann
Noch 1973 feierte die Republik Österreich das fünfzigjährige Bestehen der Internationalen Kriminalpolizeilichen Organisation (Interpol) mit eigener Briefmarke, Sonderpoststempel und Schmuckkuvert. Auch Ägypten, die Bundesrepublik Deutschland, Indien, Italien, Mali, Monaco, Nicaragua, die Schweiz, Senegal und Vietnam widmeten Interpol eine Briefmarke. Allein die österreichische Marke zeigt einen Polizeifunker, also einen Mann mit Kopfhörern der an einem Tisch mit Funkgeräten sitzt. Damit ist die Arbeit von Interpol schon ziemlich genau beschrieben. Denn Interpol dient dem Austausch von Informationen zwischen den Polizeibehörden verschiedener Länder.
Heute scheint dieser Austausch fast selbstverständlich zu sein. Trotzdem gibt es immer wieder Kritik an der Arbeit von Interpol. Kritik, die sich speziell an der Frage entzündet, ob wirklich nur „gewöhnliche Kriminelle“ gesucht, oder ob per internationalem Haftbefehl auch politische Oppositionelle verfolgt werden. Bereits auf dem Gründungskongress 1923 stellte ein Referent fest, „dass der gemeine Verbrecher an keinem Orte irgend eine Berücksichtigung und Schonung oder gar die Einräumung eines Asylrechtes verdient.“ An keinem Ort. Nirgends. Mit diesem Ziel wurde Interpol gegründet. Im Laufe der Jahre erweiterte Interpol seine eigene Zuständigkeit schrittweise und immer mehr Länder traten dem Verein bei. Denn um einen solchen handelt es sich bei der Organisation. Juristisch gesehen ist Interpol derzeit ein Verein mit Sitz in Frankreich, dessen Tätigkeit keiner parlamentarischen oder juristischen Kontrolle unterliegt. Ziel der Zusammenarbeit sei „die Steigerung der Effizienz bei der Bekämpfung der internationalen Kriminalität und des Terrorismus“, so Interpol über Interpol.
Die Kritik an Interpol ist breit. Neben der Wahl eines ehemaligen SS-Offiziers zum Präsidenten (nach 1945 wohlgemerkt!) erregte eine Anzeige gegen den derzeitigen Präsidenten die Öffentlichkeit, der soll nämlich in seinem Heimatland, den Vereinigten Arabischen Emiraten, für die Folter zahlreicher Menschen verantwortlich sein. Konstant stehen vor allem die Red Notices in der Kritik. Die roten Vermerke stehen für das „Ersuchen eines Mitgliedstaats, den Aufenthaltsort von Personen zu ermitteln und sie vorläufig festzunehmen.“ So ein internationales Fahndungsersuchen unterliegt ziemlich strengen Kriterien. Denn eigentlich ist Interpol jede „Betätigung oder Mitwirkung in Fragen oder Angelegenheiten politischen, militärischen, religiösen oder rassischen Charakters“ untersagt. Trotzdem kam es in der Vergangenheit immer wieder zu Verhaftungen von Oppositionellen, wie dem saudischen Journalisten Hamsa Kaschgari 2012 oder dem türkischen Autor Hamza Yalçın 2017. Das Problem war anscheinend so gravierend, dass die Organisation selbst 2015 das Reformprojekt INTERPOL 2020 startete. (1)
Seit Jahren schikaniert beispielsweise die Türkei Aktivist:innen der kurdischen Bewegung mit Fahndungsersuchen und schränkt deren Alltag damit stark ein. Denn selbst wenn es zu keiner Auslieferung kommt, kann bereits die Fahndung Angst und Unsicherheit hervorrufen. Besonders die Haltung der österreichischen Behörden trägt zur Verunsicherung bei: Diese gewähren Menschen aufgrund strafrechtlicher Verfolgung im Herkunftsland Asyl und nehmen gleichzeitig an eben dieser Verfolgung Teil, indem sie den Fahndungsersuchen des Herkunftslandes nachgehen. Ein grundsätzliches Problem ist, dass Interpol mit Staaten zusammenarbeitet, die ihre Macht missbrauchen. Selbst wenn ein Land wie die Türkei regelmäßig vom Europarat und vom Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte kritisiert wird, geht Interpol den Fahndungsersuchen nach.
In den 1920ern standen nur Delikte wie Diebstahl, Betrug, Menschenhandel und Drogenschmuggel im Fokus der Organisation. Dennoch schreibt der Historiker Patrick Bernhard, dass Interpol „von Anfang an eine dezidiert politische Agenda [verfolgte], die auf Antisozialismus und Antikommunismus beruhte und zugleich einem konservativ-nationalistischen Gesellschaftsbild verpflichtet war, das offenen Rassismus mit einschloss.“ (2) Fakt ist, dass die Polizeibehörden ihre Kontrolle durch den bürgerlichen Nationalstaat nach dem Ersten Weltkrieg als lästig empfanden und daher nach einer Möglichkeit suchten, sich dieser Kontrolle zu entziehen. Das lässt berechtigte Zweifel an der Vereinbarkeit polizeilichen Handelns mit Recht und Gesetz aufkommen. Dem Vorwurf, dass Interpol eine klare politische Agenda verfolgte, ist dennoch mit Skepsis zu begegnen.
Werfen wir noch einen Blick auf das Gründungsjahr. Es ist Montag, der 3. September 1923, als sich die ausschließlich männlichen Teilnehmer des Internationalen Polizeikongresses in Wien treffen. Die Wiener Polizeidirektion ist festlich geschmückt, Palmen zieren den Eingang. Bei der Parade der Sicherheitswache posieren einige Kongressteilnehmer sogar. Der Wiener Polizeipräsident Johann Schober organisiert allerdings fleißig weiter, mit Kneifer und Spitzbart, während zwei niederländische Polizisten in die Kamera grinsen. Eher skeptisch beäugt, inmitten der ungarischen, tschechoslowakischen und italienischen Vertreter, der österreichische Geheimdienstchef Maximilian Ronge das auf ihn gerichtete Objektiv. So wie Ronge waren einige andere Teilnehmer nicht nur für die Kriminalpolizei tätig, sondern auch Teil der politischen Polizei ihrer Länder. (3) Ihre Aufgabe war es, als Geheimpolizei im Dienste des Staates die Bevölkerung allgemein und besonders die politische Opposition zu überwachen. Spätestens hier sollten alle Alarmglocken läuten. Angehörige der politischen Polizei koordinieren die angeblich unpolitische Zusammenarbeit kriminalpolizeilicher Behörden? Da kann etwas nicht stimmen. Doch Beweise dafür, dass Interpol ein dezidiert antikommunistisches Projekt sei, lassen sich keine finden. (4) Es fehlen schlicht die Quellen, um so einen Beweis antreten zu können. Ein wesentlicher Grund hierfür ist, dass etliche Akten entweder nie angelegt oder 1945 vernichtet wurden.
Womit wir gleich beim nächsten Kritikpunkt wären. Da die österreichische Polizei maßgeblich an der Gründung der Interpol beteiligt war, konnte sie durchsetzen, dass Wien ständiger Sitz von Interpol wurde. Mit dem Einmarsch der Nationalsozialisten erlangten diese dann die Kontrolle über Interpol. Die Eingliederung in den SS-Polizeiapparat kann als de facto Auflösung beschrieben werden. Immer mehr Staaten zogen sich zurück, bis nur noch die Verbündeten des NS-Staates und die besetzten Gebiete als Mitglieder verblieben. Trotzdem war die SS bemüht, den neutralen Status von Interpol zu wahren, um aus der prestigeträchtigen Institution weiterhin politisches Kapital zu schlagen. Der internationale Polizeiaustausch zu politischen Straftaten verlief daher über eine andere Organisation, sofern ein internationaler Austausch überhaupt nötig war. Schließlich hatte die deutsche Sicherheitspolizei mit Beginn des Krieges vielerorts direkten Zugriff.
Es kann angenommen werden, dass auf informeller Ebene durchaus antikommunistische Seilschaften bestanden. Die strikte Trennung von politischen und kriminalistischen Ermittlungen war vermutlich ebenfalls eine heikle Angelegenheit. Doch Interpol kann nur als unpolitisch erscheindendes Projekt Bestand haben. Daher muss die Organisation der Öffentlichkeit glaubhaft versichern können, dass sie keiner politisch motivierten Verfolgung Vorschub leistet. Ein gängiger Weg mit diesem Problem umzugehen, ist die Umdeutung bestimmter Delikte. Der Historiker Jens Jäger zeigt, dass Interpol sich mit der Definition des „internationalen Verbrechens“ recht schwer tut: „Kurz, es ließ sich weder genau beziffern, welchen Umfang die Gruppe besaß, noch in Ermangelung klarer Kriterien eindeutig feststellen, wer zu ihr gehörte. Was streng genommen blieb, war die Bezeichnung eines Delinquenten als ‚internationalen Verbrecher‘.“ (5) Das ist der Kern des Problems. Die Bezeichnung „Verbrecher“ oder „Terrorist“ wird zu einer nicht näher definierten Kategorie, die Einzelnen beliebig zugeordnet werden kann.
- Matthias Monroy (2016): Aufwuchs der Internationalen Polizeiorganisation im Projekt „Interpol 2020“, www.cilip.de/2016/12/11/aufwuchs-der-internationalen-polizeiorganisation-im-projekt-interpol-2020/
- Patrick Bernhard (2022): Der Beginn einer faschistischen Interpol. Das deutsch-italienische Polizeiabkommen von 1936 und die Zusammenarbeit der Diktaturen im Europa der Zwischenkriegszeit, www.europa.clio-online.de/essay/id/fdae-116201
- Cyrille Fijnaut (1997): The International Criminal Police Comission and the Fight against Communism, 1923-1945. In: Mazower, Mark (Hg.): The Policing of Politics in the Twentieth Century, Berghahn Books, Providence/Oxford, 113. Fijnaut nennt hier explizit die Niederländer A. Sirks und K. Broekhoff sowie den Belgier A. Keffer
- Ebd. 123
- Jens Jäger (2006): Verfolgung durch Verwaltung. Internationales Verbrechen und internationale Polizeikooperation 1880-1933, UVK, Konstanz, 35