MALMOE

Solschenizyns vergessener Genosse

Georgi Demidow wäre am 16. November 115 Jahre alt geworden. Der Galiani Verlag hat mit Fone Kwas oder Der Idiot erstmals ein Werk dieser tragischen Figur auf Deutsch veröffentlicht.

Die Leidensgeschichte von Rafail Lwowitsch Belokrinitskij ist der des Autors nicht unähnlich. Der renommierte Chefingenieur Belokrinitskij wird eines Abends aus heiterem Himmel von zwei Beamten des Volkskommissariats für Innere Angelegenheiten (das NKWD, aus dem der spätere KGB hervorging) in seiner Wohnung verhaftet. Die anfängliche Verwirrung weicht schnell der bitteren Gewissheit: „Er hatte schon erkannt, dass es sich um diejenigen handelte, deren nächtliche Arbeit sich am Morgen durch leere Arbeitsplätze, verschlossene Büros und das verängstigte Flüstern von Kollegen offenbarte, die sich mit äußerster Vorsicht „Abgeholt…“ zuflüsterten.“ Was folgt, ist eine Tortur, die jegliche Vorstellungskraft übersteigt. Belokrinitskij wird in ein berüchtigtes Untersuchungsgefängnis gebracht. „In sein Gesicht schlug warme, dichte, irgendwie muffige Luft, gegen die selbst die stinkende Flurluft frisch erschien. Die Zelle war klein, nicht mehr als vier Schritt lang und zweieinhalb breit. […] Die Körper halbnackter Männer bedeckten den Zementboden. […] Rafail Lwowitsch wich unwillkürlich vor dem Eingang zu der stinkenden Kammer zurück, in der menschliche Körper wie Sardinen in einer Blechdose gestapelt waren.“
Wie seine Romanfigur war auch Demidow selbst eines von unzähligen Opfern des Großen Terrors, den der selbst ernannte Führer der Sowjetunion, Josef Stalin, zwischen 1936 und 1938 durchführen ließ.
Dem Autor war es wichtig, den Unterschied zwischen denjenigen, die die Oktoberrevolution 1917 mitgemacht und den Sozialismus als Staatsform auf Schiene gebracht hatten, und denjenigen, die sich nach Stalins Machtübernahme als willfährige Handlanger eines korrupten Staatsapparates anbiederten, zu betonen. Einen Altbolschewiken und neuen Mithäftling beschreibt Belokrinitskij so:
„Michail Markowitsch Berman entsprach kaum dem Typus des Bürokraten, der sich bereits in jenen Jahren herausgebildet hatte und der später unter den sowjetischen Juristen fast zum einzigen wurde, und nicht nur die Degradierung seiner Rolle zu einer Scheinfunktion tolerierte, sondern sich diese Rolle nicht einmal anders vorstellen konnte.“ Die Arbeit des Volkskommisariats fasst er dagegen süffisant und knapp zusammen: „Alle Formalitäten werden im NKWD streng eingehalten, solange sie nicht das Wesen der Willkür beeinträchtigen.“
Demidow war ein Zeit-, Leidens- und Berufsgenosse sowohl von Alexander Solschenizyn als auch von Warlam Schalamow. Doch während ersterer 1970 den Literaturnobelpreis erhielt und zweiterer immerhin noch zu Lebzeiten seine Texte über die Schrecken der sibirischen Gulags im Ausland veröffentlichen konnte, wurde Demidow (der wie Schalamow beschlossen hatte, nach seiner Haftentlassung in der Sowjetunion zu bleiben) zeitlebens schikaniert. Sämtliche seiner Manuskripte sowie alle seine Schreibmaschinen (die er zum Schreiben benötigte, weil ihm im Lager an der Kolyma die Finger abgefroren waren) werden kurz vor den Olympischen Spielen 1980 vom KGB beschlagnahmt. 1987 stirbt Georgi Demidow als endgültig gebrochener Mann.
Seine Tochter Walentina Demidowa sagte dazu: „Es tut sehr weh, dass Vater in dem Glauben gestorben ist, nichts von dem, was er geschrieben hat, sei erhalten geblieben.“

Georgi Demidow (2023): Fone Kwas oder Der Idiot, Galiani Verlag, Berlin.
Selbstverständlich erhältlich im Stuwerbuch, Stuwerstraße 42, 1020 Wien.