Oder: Warum viele Linke Antisemitismus nur selektiv erkennen wollen
Der österreichischen Linken gilt die Solidarität mit Jüdinnen/Juden vor allem dann, wenn sie schon (lange) tot sind. Nach dem Angriff auf den jüdischen Teil des Zentralfriedhofs in der Nacht auf den 1. November, bei dem der Vorraum der Zeremonienhalle ausbrannte und an den Außenmauern Hakenkreuze gesprayt wurden, distanzierten sich einige Gruppen, die sich in den letzten Wochen zur Höchstform in Sachen antizionistischer Hetze aufschwangen, pflichtschuldig von dieser antisemitischen Tat. So will die Kommunistische Jugend (KJÖ) „Antisemitismus entschlossen entgegentreten“ und zeigt sich entsetzt über die Zunahme „antisemitischer Vorfälle und die Gefährdung jüdischen Lebens“ seit der „Eskalation der Situation in Palästina“. Was darunter zu verstehen ist, wird im nächsten Abschnitt des kurzen Textes ersichtlich: Nicht der antisemitische Terror, der am 7. Oktober in aller Grausamkeit zuschlug und sich seither die Unterstützung eines erschreckend großen Teils der Linken sichert, ist schuld an der Bedrohung jüdischen Lebens. Vielmehr seien es die Medien, die bürgerliche Parteienlandschaft als auch die vermeintliche Linke, die „die Handlungen des Staates Israel mit allen Jüd:innen gleichsetzen“, was „Jüd:innen zur Zielscheibe“ machen würde. Die vermeintliche Solidaritätsadresse an die jüdische Gemeinde verwandelt sich so zu einer Anklage jener, die sich mit dem jüdischen Staat identifizieren (über 90 Prozent der Jüdinnen/Juden geben im Übrigen an, dass Israel für ihr jüdisches Selbstverständnis eine zentrale Rolle spielt). Zu ihrem Wohle wäre es besser, so der Vorschlag der KJÖ, sie würden sich von Israel distanzieren. Der Text betreibt hier eine klassische Täter-Opfer-Umkehr: Die Vorstellung, Jüdinnen/Juden seien selbst schuld am Antisemitismus, hat in Österreich eine lange Tradition. Der Antisemitismus wird dadurch rationalisiert. Als hätte er etwas mit dem realen Handeln von Jüdinnen/Juden zu tun, und nicht mit den Ressentiments und Projektionen der AntisemitInnen selbst. Dass es die AntisemitInnen sind, die diese Gleichsetzung betreiben und Israel oft nur als Chiffre verwenden, mit dem sich der tabuisierte Antisemitismus nach Auschwitz als Antizionismus aktualisiert, dazu reicht nicht nur ein Blick in die Kommentarspalten. Bei jeder Erwähnung antisemitischer Gewalt wird auch eine klare Positionierung gegen Israel eingefordert. Die Hamas betreibt kein Versteckspiel, sondern spricht in ihren Videos und Texten offen aus, wen sie umbringen will: Nicht Israelis, sondern Juden.
Auch die trotzkistische Jugendgruppe „Revolution“, die in der letzten Woche mit der KJÖ und anderen antizionistischen Organisationen ein Bündnis geschlossen hat, um antiisraelische Kundgebungen zu veranstalten, übt sich in der Kritik des Antisemitismus nach dem Angriff auf die toten Juden. Auch sie will „Antisemitismus entgegentreten“, aber scheinbar nur dem Antisemitismus von rechts. Den eigenen, genuin linken Antisemitismus, will man lieber nicht ansprechen oder ganz verleugnen. Doch dieser hat eine lange Tradition und wurde auch innerhalb der Linken von Anbeginn scharf kritisiert. Nicht zuletzt war es Leo Trotzki selbst, der trotzkistischen Organisationen zumindest ein Begriff sein sollte, der als früher Kritiker des Antisemitismus galt – nicht zuletzt aufgrund eigener Betroffenheit. Er kritisierte nicht nur den „alten und althergebrachten“ Antisemitismus, sondern auch jene neue Form der Judenfeindschaft „sowjetischer Spielart“. Antizionismus spielte schon zu seiner Zeit eine große Rolle. „Jude“ und „Zionist“ wurden in den stalinistischen Kampagnen synonym verwendet. Auch wenn er als revolutionärer Sozialist vor der historischen Erfahrung der Shoah seine Hoffnungen eher in die proletarische Weltrevolution setze, als in den Zionismus, warnte Trotzki bereits vor der Staatsgründung Israels, dass sich die jüdische Migration in Palästina „nationalen Befreiungskämpfern“ wie „antisemitischen Pogromisten“ gleichermaßen gegenübersieht. Und gegen die Blut-und-Boden-Rhetorik der nationalen Befreiung entgegnete er: „Es gibt auf unseren Planeten nicht so etwas, wie die Idee, dass einer mehr Anrecht auf Land hat, als ein anderer“.
Davon will „Revolution“ aber scheinbar wenig wissen und richtet den Betroffenen des Antisemitismus aus, dass „nicht alle Fälle, von denen als antisemitisch berichtet wird, auch wirklich antisemitisch“ seien. Betroffenen ihre Erfahrungen abzusprechen, bekommt die Linke beim Thema Antisemitismus immer gut hin. In maßloser Selbstüberschätzung will „Revolution“ aber dennoch in Zeiten massenhafter antisemitischer Mobilmachung „jüdische Menschen gemeinsam schützen“. Dass es gerade der jüdische Staat ist, der als bewaffneter Notwehrversuch der Jüdinnen/Juden zu gelten hat, den Kommunismus noch lebend zu erreichen, kommt ihnen dabei aber nicht in den Sinn.
Was die Staatsgründung Israels angeht, so wurde dort im Zeitraffer einer Generation sichtbar, worauf auch alle anderen Nationalstaaten gründen: Auf Gewalt, Homogenisierung und Vertreibung. Aber nur Israel, dem „Juden unter den Staaten“, wird deshalb das Existenzrecht abgesprochen. Was zum Ansatzpunkt einer allgemeinen Kritik an Staat und Nation werden könnte, wird zur antisemitischen Paranoia, da sich die Agitation ausschließlich am jüdischen Staat abarbeitet. Eine materialistische Staatskritik hätte nicht nur den besonderen historischen Hintergrund der israelischen Staatsgründung zu reflektieren, sondern sollte zeigen, dass alle Staaten „künstliche Gebilde“ sind, die sich mit der gewaltsamen Durchsetzung politischer Zentralität etablierten. Die ihnen unterworfenen Individuen werden durch Homogenisierung zum Staatsvolk zugerichtet und zum Material von Herrschaft verdinglicht. Dass das israelische „Volk“ nicht positiv bestimmbar ist, sondern negativ als Kollektiv der als „jüdisch“ verfolgten sich zusammenfindet, dient den AntizionistInnen als Beweis für dessen Widernatürlichkeit. Der Antizionismus ist das Gegenteil einer emanzipatorischen Staats- und Gesellschaftskritik.
Apropos Landraub und Gewalt: Nach der Gründung des jüdischen Staates kamen über 900.000 vertriebene jüdische Flüchtlinge aus vielen arabischen Länder nach Israel. Hier von Kolonialismus zu sprechen ist absurd und gerade deswegen wird diese Geschichte in den aktuellen Diskursen ausgeblendet. Doch auch abseits davon fehlt es an zentralen Merkmalen des Kolonialismus: So waren es Fluchtbewegungen von Menschen, die kein „koloniales“ Mutterland hatten, sondern im Gegenteil in genau jenen Ländern verfolgt und von dort vertrieben wurden.
Der KJÖ geht es ohnehin nicht um eine Kritik an Staat und Nation, sind sie doch selbst bekennende österreichische PatriotInnen. Trotz ihrer leninistischen Obsession mit dem nationalen Selbstbestimmungsrecht der Völker wird dieses Jüdinnen/Juden dann doch nicht zugestanden. Sie sollen in unserer nationalstaatlich verfassten Welt weiter wehrlos der Verfolgung ausgesetzt bleiben, auf dass Gruppen wie die KJÖ und „Revolution“ sich wieder als ihre großen Beschützer inszenieren können. Denn einem können wir uns sicher sein: An Gedenktagen wie dem 9. November werden sich diese Gruppen mit den toten Juden solidarisieren, während sie den lebenden nur unter Vorbehalten ihr Existenzrecht zuerkennen, um sich dann wieder vor jener antisemitischen Gewalt zu erschrecken, die sie selbst befeuerten.
Das kollektiv_negativ gründete sich als Flaschenpost an die Restvernunft der Linken nach den Pogromen in Südisrael am 7. Oktober 2023 und den darauffolgenden antisemitischen Mobilmachungen, bei denen Teile der Linken gemeinsam mit islamistischen Gruppierungen und der türkischen Rechten Seite an Seite marschierten. Auf der Instagram-Seite@kollektiv_negativ wurden beispielsweise Recherchen über die OrganisatorInnen der antisemitischen Demos in Wien veröffentlicht. Darüber hinaus geht es um eine Reformulierung einer radikalen Gesellschaftskritik, die sich der Identifikation und Affirmation des Bestehenden verwehrt. Das ganz andere lässt sich dabei nur negativ aus der Kritik der herrschenden Verhältnisse bestimmen. Dazu will das kollektiv_negativ einen Beitrag leisten und die Stimme der Kritik im Handgemenge der Praxis abbilden.