MALMOE

Das gemeinsame Kibbuz

Vor fast 50 Jahren hat sich in Israel die linke Künstler_innengruppe HaMeshutaf Kibbuz gegründet. Was ist von ihrem Spirit geblieben?

Tali Tamir ist unabhängige Kuratorin mit Schwerpunkt auf zeitgenössische Kunst und Kunstgeschichte in Israel. Ihr Buch HaMeshutaf Kibbutz: Art from the Left 1978-1988. ist 2022 bei Yad Yaari in hebräischer Sprache erschienen, mit viel Glück wird es eine englische Übersetzung geben.

In deinem Buch beschäftigst du dich mit der Zeit von 1978 bis 1988. Was ist bezeichnend für diesen Zeitraum in Israel?

Tali Tamir: 1978 war das Gründungsjahr der Künstlergruppe HaMeshutaf Kibbuz (Das gemeinsame Kibbuz). Das war ein Jahr nach dem politischen Wechsel der israelischen Regierung im Mai 1977. Die Arbeiterpartei, welche seit der Staatsgründung regierte, unterlag und die rechte Partei Likud stieg zur Macht auf.
Das Erdbeben, das den dramatischen Wechsel einleitete, war der Yom-Kippur Krieg im Oktober 1973. Danach gab es einen weiteren Krieg, den Libanonkrieg an der Nordgrenzen , der 1982 begann und in unterschiedlicher Intensität bis 1988 andauerte. Innerhalb der Kibbuz-Bewegung zeichnete sich im Jahrzehnt zwischen 1978 und 1988 eine allmählich wachsende und sich verschärfende Krise ab. Damit einher ging eine tiefe Schwächung der ursprünglichen sozialistischen Ideologie, aus der sich die Kibbuz-Bewegung 50 bis 60 Jahre vorher speisen konnte. Hinzu kam ab 1985 eine schwere Wirtschaftskrise, die auch die Kibbuzim betraf und die ein Indikator für einen generellen kapitalistischen Trend war. Die Gründung von HaMeshutaf Kibbuz war eine Reaktion auf all diese Ereignisse.

Wie hat das die Gruppe HaMeshutaf Kibbuz bewegt?

Die Künstlergruppe Hameshutaf Kibbuz war von sozialen, ideologischen und politischen Themen ihrer Zeit motiviert, besonders von der inneren Krise der Kibbuz-Gesellschaften und dem Verfall sozialistischer Werte: soziale Gerechtigkeit und Gleichheit, unabhängige Arbeit (im Kontrast zu angeworbener Arbeit, die von außerhalb der Kibbuz-Bewegung Stehenden ausgeführt wird), Einfachheit und Bescheidenheit im Lebensstil, gemeinsame Solidarität und vieles mehr.
Diese Künstler_innen waren kritisch gegenüber den bürgerlichen Sehnsüchten der Kibbuz-Mitglieder und der Tendenz zu weniger Solidarität und dem Verschwinden des Gemeinschaftslebens, allgemein gesagt allen gemeinschaftlich geteilten Gefühlen. Sie bezogen sich auch auf die beginnenden Siedler-Projekte in den besetzten Gebieten und haben die problematische Situation der Besetzung allgemein nicht ignoriert. Aber mit dem Beginn des Libanon Krieges, besonders nach dem Massaker in Sabra und Shatila (bei dem libanesische Einheiten im September 1982 zwischen 460 und 3500 Zivilist_innen töteten, während die Israel Defense Force nicht eingriff), haben sie fast ihre gesamten Tätigkeiten auf Anti-Kriegs-Performances und -Installationen verlagert. Die Anti-Kriegs-Aktivitäten zeichneten alle ihre Ausstellungen und politischen Veranstaltung zwischen 1982 und 1988 aus.

Was versteht die Gruppe unter „dem Gemeinsamen“ in ihrem Namen HaMeshutaf Kibbuz?

Das „Gemeinsame“ im Namen der Gruppe bedeutet, dass sie alle aktive und vollwertige Mitglieder verschiedener Kibbuzim waren und dass die Zugehörigkeit zu einem Kibbuz eine unabdingbare Voraussetzung für die Teilnahme an der Gruppe war. Bis auf eine waren alle Künstler_innen, die in der Gruppe aktiv waren, Mitglieder der Hakibbutz Haartzi-Bewegung. In gewisser Weise war das der linke Flügel der Arbeiter_innenbewegung in Israel (und ist es noch immer), der sich historisch mit der Vereinigten Arbeiter_innenpartei Mapam identifizierte. Das bedeutet, dass die Gruppe auf einer ideologischen Grundlage – Marxismus, Sozialismus oder Kommunismus – handelte. Das Grundprinzip ihrer Tätigkeit war utopisch, deutete auf die ständige Hoffnung einer besseren und gerechteren Welt hin und brachte gleichzeitig eine große Enttäuschung darüber zum Ausdruck, dass diese Hoffnung nicht verwirklicht werden konnte.
Es ist wichtig zu erwähnen, dass die Künstler_innen der Gruppe (bis auf eine) nicht im Kibbuz geboren wurden, sondern sich diesen Gemeinschaften als Erwachsene anschlossen. Diese biografische Tatsache bedeutet, dass sie nicht die „zweite Generation der sozialistisch-zionistischen Revolution“ waren, die den Sozialismus und das Gemeinschaftsleben von ihren Eltern geerbt haben, sondern erwachsene Menschen, die ihren Glauben und ihre Lebensweise selbstständig gewählt haben. Das brachte sie in eine kritischere und kompromisslosere Position.
Das zweite Wort im Titel, Kibbuz, bezog sich auf die kritische Haltung der allgemeinen Kibbuz-Bewegung, die ihre ursprünglichen Werte aufgab.     Dies wurde von innen heraus manifestiert – als vollwertige, aktive und engagierte „Genossen_innen“ ihrer Kibbuzim:
Yuval Danieli und Yosef Ohman waren Sekretäre ihrer Kibbuzim, Dov Heller war für die Avocado-Plantagen zuständig, Dov Orner leitete die Obstbauabteilung … – alle Künstler_innen waren gleichzeitig in der Landwirtschaft tätig und hatten in ihren Gemeinden eine wichtige Funktion. Eigentlich verkörperten sie eine Art lokaler proletarischer Kunst.

Was findest du an dieser Kunstbewegung inspirierend?

Mich inspiriert das Bemühen dieser Künstler_innengruppe, ihre eigenen Gemeinschaften neu zu gestalten, indem sie sich weigerten, die Augen vor Schwächen und Unzulänglichkeiten zu verschließen. Und dies taten sie mutig von innen heraus! Sie waren politisch, ohne sich zu entschuldigen oder zu zögern, und sie nahmen es bewusst auf sich, täglich in der Landwirtschaft und im kommunalen Leben zu arbeiten und dabei künstlerisch tätig zu sein. Dov Heller aus dem Kibbuz Nirim im Norden der Negevwüste, der jetzt im Oktober schwer angegriffen wurde und in der Nähe des Gazastreifens liegt, war die typische Persona dieser Doppelfunktion. Er stellte sich für eine künstlerische Manifestation in seinem blauen schmutzigen Hemd seiner täglichen Arbeit auf den Feldern dar und arbeitete immer wieder Themen aus der landwirtschaftlichen Begrifflichkeit und Mentalität heraus, die dennoch konzeptionell und minimalistisch waren.

Welche Rolle spielten die Kibbuzim in der Kunstproduktion und in der Produktion des Imaginären?

Leider wurde die Kunst der Kibbuzim von den israelischen Kunstinstitutionen nicht gewürdigt und von ihnen nicht als die einzigartige Äußerung erkannt, die sie ist. Insbesondere die Kunst von Hameshutaf Kibbuz fand keine Beachtung und war nicht Teil der israelischen Kunstgeschichtsschreibung – bis mein Buch erschien (mit einigen sporadischen Ausnahmen). Das geschah vielleicht deshalb, weil sie außerhalb des Mainstreams und weit weg von den Kunstzentren agierten und andere Stile und Formen des Kunstschaffens entwickelten. Die Gruppe wurde trotz ihrer künstlerischen Radikalität durch die Verwendung von konzeptuellen Praktiken, Fotografie und Installationen in ihren Werken in den 1970er Jahren missachtet. Ihr kritisches Denken versuchte, die Vision der frühen israelischen Gesellschaft zu erhellen, aber es war zu spät. Für die führenden Persönlichkeiten der lokalen Kunstwelt waren sie zu naiv und nicht anspruchsvoll genug … eben „Kibbuzniks“ (Anmerkung der Übersetzung: abwertende Bezeichnung für Bewohner_innen eines Kibbuz‘).

Was würdest du sagen, welche Rolle spielen die Kibbuzim heute?

Keine große. Tragischerweise hat das Massaker vom 7. Oktober in den Kibbuzim des Südens die Aufmerksamkeit der Israelis wieder auf diesen Teil der Bevölkerung gelenkt, nachdem sie jahrelang angegriffen, angefeindet und beschuldigt wurden, reich und erfolgreich zu sein. Erst nach den tragischen Ereignissen in den Kibbuzim haben sich die Menschen wieder daran erinnert, was für mächtige Gesellschaften dort leben. Wie bahnbrechend es war, dass sie sich so nahe am Gazastreifen niederließen und jeden Tag den Grenzschutz Israels gewährleisteten. Was für ein großes Risiko sie mit der Wahl dieses Standorts auf sich genommen haben. Die Bedeutung der lokalen Landwirtschaft und frischer Nahrungsmittel wurde erneut deutlich, aber die Ultrarechten und rechtsextremen jüdischen Parteien weigern sich nach wie vor, die Kibbuzim zu unterstützen, und bestehen darauf, die Ressourcen für ihre eigene Gruppe zu nutzen. Viele Jahre lang griff die Likud-Partei die Kibbuz-Bewegung an und versuchte, sie als privilegierte Gruppen der früheren Regierung zu de-legitimieren.

Wäre heute eine solche Bewegung möglich?

Im politischen Klima des heutigen Israels, das extrem nationalistisch ist und jede Option für selbstkritisches Denken oder die Überprüfung traditioneller Positionen und Überzeugungen verhindert, würden solche linksorientierte Gruppen mit utopischer Perspektive und kritischer Praxis nicht akzeptiert werden. Man könnte sie jetzt als naiv und unzeitgemäß abstempeln, weil sie sich etwa als Kommunist_innen bezeichnen, während die Kibbuz-Bewegung selbst privatisiert wurde und nicht mehr nach kommunalen Grundsätzen handelt.

Welche der Fragen, die HaMeshutaf aufgeworfen hat, können uns in der heutigen Situation helfen?

Vor allem die Notwendigkeit der Kunstpraxis, Widerstand zu leisten, kritisch zu sein, die anderen Seiten zu zeigen und sich der Komplexität der ganzen Geschichte bewusst zu sein. Nicht die gegenwärtige Situation zu akzeptieren und sie zu bestätigen, sondern immer suggestiv und sensibel zu sein für die schwächeren Teile in unserem Leben jenseits des etablierten Denkens: Kunst nicht als Propaganda für eine Ideologie zu verstehen, sondern als Mittel zum Denken, zum Aufwerfen von Fragen und zur Neugestaltung unserer Vorstellungen.