Eine kritische Betrachtung (neo-)kolonialer Sehnsüchte und europäischen Heldentums
Wenn der Subjektstatus der Natur in der ecuadorianischen Verfassung diskutiert wird, rücken auch indigene Konzepte des Buen Vivir, Sumak Kawsay und Kosmovision als Teile des Rechtshybrids in den Fokus. Im Folgenden werden (neo-)koloniale Perspektiven auf indigene Mensch-Umwelt-Beziehungen betrachtet. Die Fragmente in diesem Text bilden ein lückenhaftes Panorama, ein Spannungsfeld aus Selbst- und Fremdbildern, einen Spielraum für Reflexion und Anerkennung historischer Machtgefälle.
Es ist das späte 15. Jahrhundert: Der Seefahrer und selbsternannte Entdecker Amerigo betritt einen Kontinent. Hinter ihm ein eindrucksvoller Dreimaster, vor ihm eine nackte Frau in der Hängematte mit Schmuck an Wade, Hüfte und Kopf. Hinter ihr grillen zwei Personen ein menschliches Bein. Üppige Vegetation und eigentümliche Tiere schieben sich durch die Blickachsen. Neben ihr eine Keule – ihre Haltung lässt Bereitschaft vermuten, diese auch zu benutzen. Sie richtet sich auf, Amerigo steht vor ihr, eingedeckt in Mantel, Hose mit Schwert, Schuhen, Mütze. So steht er und schaut auf sie herab, in der einen Hand ein Banner, in der anderen ein Astrolabium. Er hat alles, was er braucht, um dieses Stück Erdoberfläche zu einem neuen Stück Welt zu erklären. Etwas, was vorher nicht existierte, weil es an den gegenüberliegenden Ufern der Ozeane noch keinen Namen hatte. Amerigo markiert und kartographiert und vermisst das Land und spricht den neuen Namen. „Amerika“, spricht Amerigo.
Die Szene ist eine Beschreibung des Kupferstichs America (Die Entdeckung Amerikas) (ca. 1575), dem ersten Blatt aus der Folge Nova Reperta über die größten Errungenschaften der Neuzeit, von Jan van Straet. Es handelt sich um die Inszenierung der Kolonisierung mit Hilfe von Metaphern von Geschlechterdifferenz und Begehren. Die Begegnung der Kulturen wird als erotische Einladung illustriert. Eine paradiesische Verführung, voller Gefahren und Reichtümer. Der Bildaufbau des Kupferstichs legt nahe: Natur und Weiblichkeit werden zusammengedacht und Rationalität, technischen Errungenschaften und Männlichkeit gegenübergestellt. Der native Frauenkörper wird zur Allegorie eines vermeintlich verfügbaren Territoriums, eines ganzen Kontinents. Ihr Konterpart ist der zivilisierte Mann.
Es ist Ende des 19. Jahrhunderts: Der belgische König, bekannt für seine Gräueltaten im heutigen Kongo, lässt die Königlichen Gewächshäuser Laken erbauen; darin eine künstliche Tropenlandschaft. Ihre Inszenierung verläuft entlang historischer stereotyper Vorstellungen einer „ursprünglichen“, „wilden“ Natur und referiert unter anderem auf paradiesische Darstellungen des Amerikas des 16. Jahrhunderts. Wir erinnern: Gefahren, Reichtümer, Verführung. Ingenieurskunst und Architektur halten tropische Flora am Leben, domestizieren, zähmen, ordnen. Es ist eine Eindruck schindende Machtdemonstration.
2009 und dann nochmal 2022: Ein US-Amerikaner landet auf einem unbekannten Planeten, Pandora. Er ist gekommen, schwer militarisiert, um Rohstoffe abzubauen, weil auf der Erde inzwischen die Ressourcen knapp werden. Die Bewohner:innen des Planeten beantworten dieses extraktivistische Vorhaben mit gewaltvollem Widerstand und Pfeil und Bogen. Der Protagonist nimmt Kontakt auf, erkennt ihre Lebensweise, ihre Beziehung zu Natur und Kosmos und beschließt, fortan ihren Widerstand anzuführen.
Spektakulär inszeniert ist die Verbundenheit der Bewohner:innen mit Pandora, einem lebendigen Organismus, dessen Bewusstsein sich aus jeglichen nativen Lebensformen des Planeten speist, im Hollywoodblockbuster Avatar. Hier zeigt sich, wie Animismus häufig popkulturell verwendet wird: Interdependenz und Verwandtschaft mit der belebten Umwelt, ein erweitertes Verständnis von Bewusstsein, sowie Kommunikation zwischen verschiedenen Spezies. Es häufen sich weitere Modi in der Betrachtung indigener Naturvorstellungen: Romantisierung einer vermeintlichen Ursprünglichkeit, „unberührt“ vom technischen Fortschritt. Sehnsüchte und Überheblichkeit füttern das Narrativ der schutzbedürftigen Indigenen.
Geschichten mit weißen Männern in den Hauptrollen prägen bis heute Begegnungen mit “anderen“ Lebensentwürfen, ihren Konzepten und Kämpfen: Die vermeintliche Entdeckung und Eroberung, der Aufbau künstlicher Landschaften entlang exotischer Sehnsuchtsprojektionen. Der Versuch ist kläglich gescheitert eine Kolonialisierung durch eine Hommage an sozialökologische Systeme indigener Gemeinschaften emanzipatorisch umzudeuten. Die unterschiedlichen Narrative manifestieren Überlegenheit, die sich um das weiße männliche Subjekt ausbreitet; sei diese technisch, moralisch oder rational begründet. Sie alle arbeiten mit Fremd- und Selbstbildern, die nicht losgelöst von kolonialen Interessen und Machtkämpfen betrachtet werden können. Sie alle instrumentalisieren die Beziehung von Umwelt und Mensch, um eigene Interessen durchzusetzen, sei es durch Unterwerfung, Imitation und Aneignung oder Romantisierung und Infantilisierung. Sie gehen Hand in Hand mit einem rassistischen, evolutionistischen Weltbild. Unterschiedliche Lebensweisen werden in „Entwicklungsstufen“ geteilt und Europa als Maßstab an ihre Spitze gesetzt. Naturnähe und Animismus wurden historisch als Beleg für “niedere“ Entwicklungsstufen gedeutet, was bis heute Grundlage für rassistische Theorien ist, wie unter anderem Anja Laukötter in ihrem Buch Von der „Kultur“ zur „Rasse“ – vom Objekt zum Körper? (2007) ausführt.
In diesem Magazin begleitet das kritische Aufdröseln dieser Erzählungen die Interviews mit unseren Freund:innen Paolo, Victoria und Darling, auf dass sie mit Vorsicht rezipiert werden. Sie begleiten die Frage der Übertragbarkeit indigener Konzepte in eine mitteleuropäische Gesellschaftspolitik. Und wir diskutieren die Frage und denken laut über sie nach, wie und ob sich Rechtsprechung an einem Naturverständnis orientieren kann und sollte, das über Jahrhunderte Abwertungen ausgesetzt war, zugunsten einer Konstruktion westlicher Überlegenheit. Bestimmt können sich Hybride finden, bestimmt kann gelernt werden, aber Verlernen muss Teil davon sein.