MALMOE

In der Symbiose 
steckt Magie

Paolo Realpe von Muisne dente Adentro über Wohlstand, Decodierung und gesellschaftliche Veränderung im Gespräch mit Eva Gertz und Teresa Ellinger.


EG, TE: Erzähl uns über dich.

PR: Ich wurde im Norden der Provinz Esmeraldas an der Küste von Ecuador in San Lorenzo geboren, bin aber im Süden der Provinz im Kanton Muisne aufgewachsen. Unsere Lebensgrundlage war das Muschelsammeln, Fischen und das Köhlern, was alles lokale Traditionen und Vermächtnisse sind. Diese bilden auch aktuell die Lebensgrundlage für viele Menschen hier. Viel von dem, was ich weiß, habe ich durch das Dabeisein gelernt: von moralischen Prinzipien bis hin zu täglichen Aufgaben. Dieses Lernen im Alltag hat mich sehr geprägt und ich habe Werkzeuge und Wissen in unseren Traditionen gefunden, die mich reich machen.

EG, TE: Was ist das Projekt?

PR: Unser Projekt ist ein kulturelles Projekt, das sich mit der Bedeutung der Natur im Alltäglichen, Ökotourismus und der mündlichen Überlieferung von Traditionen beschäftigt. Wir versuchen, Räume zu schaffen, in denen Praktiken des Alltags, Kultur und Traditionen weitergegeben werden, denn sie sind der Schlüssel zu mehr Nachhaltigkeit. Zum Beispiel bedeutet es die Erschaffung von kulturellen Zentren, die lokales Wissen erhalten und weitergebend und somit zum Wohlbefinden der Gesellschaft beitragen. Bildung ist ein wichtiger Ansatzpunkt. Und zwar keine staatliche regulierte Bildung, sondern lokale, die auf traditionelles Wissen fokussiert. Mir würde das in einem 70/30 Verhältnis vorschweben. 70 Prozent lokal, 30 Prozent allgemein. Damit Menschen lernen, sich nicht mehr dafür zu schämen, woher sie kommen.

EG, TE: Was hat das mit Umwelt zu tun?

PR: Ich habe irgendwann verstanden, dass Natur und Mensch zusammengehören. Dies hat dazu geführt, dass ich auch die Frage nach Wohlstand und Familie neu verstehen konnte. In Esmeraldas wird besonders den Muschelsammlerinnen und Köhlerinnen oft gesagt, sie seien arm. Aber das sind wir nicht. Wir sind reich, weil wir Wissen haben. Wir haben gelernt, die Natur so zu verstehen, dass wir unsere Lebensgrundlage bestreiten können: gemeinsam mit und durch die Natur. Unser Wissen ist unser Reichtum – es ist Generationen alt und ist in mündlicher Überlieferung, in Geschichten, in Gemeinschaftskonzepten, im Tanz, vielleicht in Kultur im Allgemeinen überliefert. Wir können Natur entschlüsseln und dabei eine Symbiose bilden. Ein essenzielles Mittel dafür ist Tanz, denn er ist die ausdrucksstärkste Sprache in der Vermittlung von Wohlbefinden, Authentizität und Werten. Muisne war bis in die 1950er Jahre eine sehr produktive Region. Der Name Muisne kommt aus dem Chapala und bedeutet auf Deutsch Fülle; weil es Fülle in allen Bereichen gibt. Wir haben vielleicht kein materielles Vermögen oder viel Geld. Unser Vermögen, das Vermögen der Vorfahren und der Afro-Bevölkerung sind unsere Territorien, die Mangroven, der Ozean und unsere Fähigkeit, sie zu verstehen. Der Fluss wird für mich zu Reichtum, weil ich weiß, wie ich einen Haken zum Fischen benutze und Wasser, Wind und Vögel verstehe. Der Wald wird für mich zum Vermögen, weil ich weiß, wie er mich ernähren kann. Weil wir in einem Verhältnis zueinander stehen und weil wir im Austausch sind.
Immer wieder wurde uns gesagt, ihr müsst nach mehr und etwas Anderem streben. Aber wir haben Wohlstand. Auch mein Konzept von Familie hat sich dadurch verändert. Es ist nicht mehr nur meine Kleinfamilie, mit der ich zusammenwohne, also meine Eltern und meine Kinder. Es ist meine ganze Umgebung, die Mangroven, meine Nachbarschaft, alle Menschen, mit denen ich hier wohne, mit denen ich aufgewachsen bin. Das gehört alles zur Natur und meiner Beziehung zu ihr. Und ich glaube, dass Wissen dabei eine sehr bedeutsame Rolle spielt, einerseits das Wissen darüber, woher man kommt und andererseits das Wissen über die Möglichkeit des Lernens. Denn das ist Magie: dass wir ein multiethnischer, multikultureller, multinationaler und vielfältiger Ort sind.

EG, TE: Welche Rolle spielt der Staat?

PR: Ich habe gelernt, selbst Verantwortung für mein Wohlergehen zu tragen und nichts vom Staat zu erwarten. Eigentlich sollte der Staat doch die Ressourcen der Bevölkerung verwalten. Aber heute ist es ein Geschäft und die Ausführung von Politik ist total verzerrt. Ich denke, dass ich eigenständig Rechte einfordern kann. Und dafür brauche ich keinen Staat, der mir sagt, was richtig und was falsch ist. Vor allem dann nicht, wenn er selbst seinen Pflichten nicht nachkommt. Ich brauche auch keinen Politiker, der sagt: „Ich repräsentiere euch und jetzt müsst ihr mich wie einen Chef behandeln.“ Bei dieser Art und Weise von Politik fragt man sich gar nicht, ob das System funktioniert und seinen Anforderungen gerecht wird oder was langfristige gesellschaftliche Ziele sein könnten. Wenn wir bei dieser Art und Weise des Politik-Machens mitspielen, setzen wir das Wohlergehen kommender Generationen aufs Spiel. Für mich folgt daraus die Pflicht, selbst Verantwortung für unser eigenes Wohlbefinden und Handeln zu übernehmen und Dinge anders zu machen. Durch Praxis können wir auch größere gesellschaftliche Veränderungen herbeiführen. Dafür brauchen wir Vernetzung, Selbstverwaltung und Verbündete – überall auf der Welt. Wir müssen das schützen, was uns am Leben hält, was uns ernährt, uns Autonomie gibt, das Gefühl der Gleichwertigkeit schenkt. Ich sage das auch in Bezug auf Europa. Wir leben in einer globalisierten Welt. Das, was in Lateinamerika passiert, hat Auswirkungen auf Europa und umgekehrt. Wir müssen mit der Annahme brechen, dass wir darin nicht gleich sind. Wir sind auf der Welt eine Familie, deshalb müssen wir auch hier eine Symbiose bilden.
Ich schicke euch eine Umarmung aus diesem wunderschönen Ort der Mangroven mit ein bisschen Meeresbrise, Kokoswasser und einem Hauch von Kakaohonig.

Paolo Realpe
hat das Projekt “Muisne desde Adentro“ gegründet und bringt Afro-Ecuadorianische Kultur, Bildung, Natur und Gesellschaftskonzepte zusammen.
Mehr Infos: muisnedesdeadentro.com