MALMOE

Geschichten aus dem Rudolfsbad

Die Wassertherapie in Reichenau an der Rax im 19. Jahrhundert

Der Ort Reichenau liegt in einem Tal in den Ostalpen. Die Strecke Wien-Reichenau dauert heute mit dem Zug zwischen sechzig und neunzig Minuten, was den Ort zu einem beliebten Ausflugsziel für Wiener:innen macht. Im 19. Jahrhundert war die Strecke in etwa zwei Stunden zu schaffen. Die Semmeringbahn war 1854 gerade eröffnet worden und wer es sich leisten konnte, strömte bereits damals aus der Residenzstadt in die Alpen. In Zeitungsartikeln aus der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts wird die Gegend zum Paradies auf Erden stilisiert, Landschaft und Klima gepriesen und die Abgeschiedenheit betont. So schreibt eine unbekannte Autorin in der Badezeitung vom 5. Mai 1872 über Reichenau: „Verschont von jeglicher Kulturbeleckung, liegt es versteckt zwischen dem Schneeberge und der Raxalpe, mitten in einem paradiesischen Thale, ein staubiges, armseliges Gebirgsnest, ohne Promenademusik, ohne Kaffeehaus und ohne Gasbeleuchtung.“
Das fehlende Kaffeehaus schmerzte die Ausflügler:innen anscheinend sehr. Noch drei Jahre später schrieb das Satireblatt Hans Jörgel über Reichenau: „Mir haben gor koan Kaffeehaus im Ort. Wann‘s aber Zeitungen lesen wollen, müaßen‘s zum Herrn Waissnix gehn, – die hat a Curhaus und an Cursalon mit Zeitungen, aber nur für die Leut, die bei eahm loschiren, d‘andern Leut dürfand da ned eini.“ Der Status als Provinznest war also sowohl Fluch als auch Segen für den Ort. Der fehlende Kurstatus hingegen sollte eine offene Wunde bleiben. Dagegen wehrte sich die Familie Waissnix, bis Reichenaus Glanz und Gloria schließlich mit den Habsburgern im Ersten Weltkrieg unterging. Aber der Reihe nach.
Der Familie Waissnix gelang es Mitte des 19. Jahrhunderts, aus ihrem ehemaligen Bauerngut einen florierenden Hotelkomplex zu schaffen. Dabei halfen sicherlich die regelmäßigen Besuche der Kaiserfamilie. Doch nicht nur Adlige, auch wohlhabende Wiener:innen besuchten Reichenau oft und viele von ihnen ließen sich dort Villen errichten, in denen sie die Sommermonate verbrachten. Überlegungen zur Profitmaximierung brachten die Gebrüder Alois und Michael Waissnix dazu, im Jahre 1865 ein nach Kronprinz Rudolf benanntes Rudolfsbad zu eröffnen. Sie hofften dabei offensichtlich auf eine massive Ankurbelung der Geschäfte, sollte das Bad erst einmal etabliert sein. Neben der Präsenz der Kaiserfamilie war die Erlangung des Kurstatus dafür letztlich entscheidend. Dies gestaltete sich allerdings komplizierter als gedacht.
In der Badezeitung vom 5. Mai 1872 heißt es weiter: „Dreimal suchte Reichenau darum an, daß man es mit dem Prädikate „von Rudolfsbad“ in den „Kurortstand“ erhebe, aber dreimal wurde diese Bitte von den Wiener Hofräthen zurückgewiesen; das dritte Mal den eben verflossenen Winter, mit dem Beifügen, „es mangle an den Bedingungen eines Kurortes“. Trotz dieser hofräthlichen Engherzigkeit nimmt der Besuch unseres reizenden Thales von Jahr zu Jahr zu und in den heißen Sommermonaten muß man sich, so zu sagen, mit den Ellenbögen Platz machen, denn wer ein Freund der Naturgenüsse – darunter zählt man die Kaltwasserkur – ist, der pilgert in das Mekka der Gebrüder Waissnix.“ Die mangelhafte Infrastruktur wird sicher ein Grund für die Verweigerung des Kurstatus gewesen sein. Ein anderer war die zitierte Kaltwasserkur.
Im 19. Jahrhundert fanden erbitterte Richtungskämpfe auf dem Gebiet der Medizin statt. Neben der sogenannten Schulmedizin beanspruchte die Naturheilkunde, das alleinige Wissen um die Heilung von Menschen zu besitzen. Die Wassertherapie war laut Naturheilkunde eine Möglichkeit, natürliche Heilkräfte zu nutzen und die Verwendung von Arzneimitteln zu vermeiden. Die Gegenseite empfahl doch gefälligst die eigene „Medizin“ zu schlucken: „Herr R. will widerlegt sein. Das wollen, das können wir nicht! Wir wollen nicht, denn wir haben es nicht nöthig; wir können nicht, weil Herr R. krank ist, geisteskrank; denn er leidet am fixen Wahn, daß Krankheiten durch Medicin oder durch Milben entstehen, daß Alles durch Wasser heilbar sei, und daß er dazu berufen sei, das Heil der Welt zu verkünden.“ Die Fronten waren also ziemlich verhärtet. Im Streit um das Rudolfsbad setzte sich die schulmedizinische Sicht schließlich durch. Das Bad und der Ort Reichenau erhielten keinen Kurstatus.
Dessen ungeachtet erschienen weiterhin Inserate für die „Wasserheilanstalt Rudolfsbad“ inklusive Verweisen auf Kurarzt und Kurbad. Der Strom an Besucher:innen blieb gleichfalls konstant. Das Wasser scheint es den Menschen damals einfach angetan zu haben. Davon zeugt nicht nur die entstehende Badekultur, sondern auch der Bau der Ersten Wiener Hochquellenleitung oder die Weltausstellung von 1873. Auf letztere bereitete sich die Familie Waissnix in Erwartung eines riesigen Ansturms mit dem Ausbau ihrer Räumlichkeiten vor. Die Wiener Wasserleitung – auf deren Fertigstellung vor Beginn der Weltausstellung die Behörden übrigens nicht zuletzt aufgrund des massenhaften Auftretens von Typhus-Toten drängten – führt nicht nur Alpenwasser aus dem Rax-Schneeberg-Gebiet in die Hauptstadt und fließt direkt durch Reichenau. Die Wiener Gemeinderäte machten bei einer Besichtigung derselben einen Abstecher ins Rudolfsbad, worüber die Badezeitung vom 9. Juni 1872 schreibt: „Zweck des Ausfluges war, den Stand des Wasserleitungsbaues zu besichtigen und nebenbei den Genuß einer herrlichen Landpartie zu haben – oder auch umgekehrt.“ Dabei wurde mit Sicherheit nicht nur Wasser getrunken, immerhin bot die, der inneren Anwendung verschriebene, Trinkhalle des Rudolfsbads neben diversen Mineralwässern auch Milch- und Molkekuren an, wozu „die Milch von Ziegen, welche auf der Alpe weiden, täglich früh Morgens herabgeschafft“ wurde. Wohl bekomm’s!


Weiterlesen unter:
Wolfgang Kos (2021): Der Semmering. Eine exzentrische Landschaft. Residenz, Salzburg/Wien.
Uwe Heyll et al.: Vorbemerkungen zur Wissenschaftsgeschichte der Naturheilkunde, in: Medizinhistorisches Journal, Nr. 34/1999.