Gestörtes Störendes #25
Ich möchte diesmal einen weiten Bogen spannen von Beziehungen unter kapitalistischen Verhältnissen über die psychische Gesundheit von Jugendlichen hin zur Psychiatrie als gesellschaftlicher Krisenantwort. Genauer geht es darum, dass unser grundlegendes Beziehungsbedürfnis unter kapitalistischen Verhältnissen durch Social Media nun ebenfalls kapitalisiert wird. Diese kapitalistische Beziehungsform bleibt aber unzureichend und wenn das deutlich wird, wie unter Corona, kann das Krisenprozesse auslösen oder potenzieren – besonders bei Jugendlichen, die ja gerade in dieser Lebensphase darauf angewiesen sind, sich Beziehungen unabhängig vom Elternhaus aufzubauen. Die gesellschaftliche Antwort auf psychische Krisen ist die Psychiatrie, die selbst eine chronische Krise ist. Aber zurück zum Anfang.
Auf gesellschaftlicher Ebene sind wir Material. Wir sind Mittel zum Zweck. Wir leben unter instrumentellen Bedingungen. Auf diesem kalten Boden versuchen wir ein Gegengewicht aufzubauen und Beziehungen zu knüpfen, Sicherheit zu gewinnen, unser Leben zu führen. Wir finden uns in einer Welt wieder, die nicht für menschliches Glück und Wohlbefinden gebaut ist, sondern für Profitmaximierung und Wirtschaftswachstum. Alles, was wir an Beziehungen leben, die wir nur um ihrer selbst willen eingehen, entwickeln wir gegen dieses System. Bindungen sind zentral für unsere psychische und emotionale Entwicklung. Ohne Bindungen kein Mensch, könnten wir sagen. Unsere frühen Bindungserfahrungen beeinflussen uns und in der Folge auch in der einen oder anderen Weise unsere weitere Beziehungsgestaltung. Wie genau, das ist zwar offen und veränderbar, aber sich dieses zentralen Einflusses bewusst zu sein, erhöht das Selbstverständnis und somit auch die Handlungsfähigkeit.
Die sogenannten Social Media kapitalisieren in ihrer gegenwärtigen Form unsere Beziehungen. Sie sind nicht dafür konzipiert und konstruiert, uns Gutes zu tun, sondern uns möglichst lange und viel bei sich zu halten. Unsere Beliebtheit wird geklickt, wir werden schnell friends und entfreunden aber auch schnell. Diese digitalen Beziehungen sind also nicht sehr stark; sie können sehr unkompliziert gekappt werden, oder gemutet, oder ähnliches.
Was macht diese Form der digitalen Beziehungsgestaltung mit uns und unserem Bindungsbedürfnis? Die Beliebigkeit und Leichtigkeit des Beziehungsklickens steht im Widerspruch zu unserem prinzipiellen Bedürfnis nach stabilen und auch tiefen Beziehungen. Natürlich gibt es auch genügend Leute – wie mich selbst zum Beispiel – die aufgrund ihrer frühen Bindungserfahrungen wenig bis keine tiefen zwischenmenschlichen Beziehungen aufbauen, weil diese als gefährlich erlebt wurden und vielleicht immer noch werden. Nichtsdestotrotz besteht ein Beziehungsbedürfnis, das sich auch ganz andere Objekte suchen kann, jenseits menschlicher Beziehungen – Gegenstände, Ideen, Drogen und so weiter. Verlässlichkeit, Stabilität und Sicherheit sind die zentralen Parameter für Beziehungen, die wir suchen und aufrechterhalten.
Wie schaut es damit aber aus, wenn wir uns „Klick-Beziehungen“ zuwenden? Sie sind leicht, schnell, unkompliziert und auch unbegrenzt: Ich kann mich sogar mit Berühmtheiten „befreunden“ und fühle mich so in direkter Verbindung mit ansonsten unerreichbaren Menschen. Wenn jedoch diese virtuelle Welt nicht ein reales Gegengewicht hat, das ausreichend befriedigend ist, also mir das Gefühl gibt, in ein sicheres Netz eingebunden zu sein, zeigt sich schnell ihre Begrenztheit. Damit ist nicht gesagt, dass ein sicheres Netz per se gut ist, aber Sicherheit und Kontrolle sind das, was wir suchen. Die Pandemie hat – so meine Hypothese – bei vielen Jugendlichen das Vertrauen in ihr Beziehungsnetz insofern erschüttert, als dass ihnen klar geworden ist (bewusst oder unbewusst), dass virtuelle Beziehungen nicht das halten, was sie versprechen. Es ist so, als wolle mensch sich von Snacks und Zuckerzeug ernähren – das schmeckt vielleicht kurzfristig, ist aber keine nachhaltige Ernährung und wird auf lange Sicht zu gesundheitlichen Problemen führen. Hinzu kommt die Einsicht darin, wie veränderbar die menschliche Gesellschaft potentiell ist; das hat Corona ja anschaulich gezeigt. Dass wir nun aber wieder zum alten Weltverhältnis der Ausbeutung und des Wachstums zurückgekehrt sind, obwohl wir uns in der Klimakrise befinden, das ist deprimierend.
Die Antwort auf die teilweise schweren Krisen ist die Psychiatrie – ein Ort der individuellen Krankheit, des individuellen Versagens, der individuellen compliance (Behandlungsbereitschaft). Hier nach noch mehr desselben zu rufen, wie es aktuell stark der Fall ist, ist sinnlos. Die Psychiatrie kann ein Ort des Durchatmens, der kurzen Erholung, der Lebensrettung sein, allerdings ist sie im aktuellen Zustand oft nicht einmal das. Und auch wenn, ist sie es viel zu oft zu einem hohen Preis, dem der Demütigung und Beschämung, des Übergangen-Werdens, der Ruhigstellung und vielem mehr. Was wir brauchen, ist Veränderung hin zu Menschlichkeit in dem Sinn, dass die zentralen menschlichen Bedürfnisse (in Verbindung sein, sich als sinnvoll erleben, mit anderen Kontrolle über die eigenen Lebensbedingungen haben etc.) das Wichtigste werden in der Psychiatrie, aber auch in der Gesellschaft allgemein.