Wie Kälte krank macht und bestehende Ungleichheiten vertieft
Energiearmut (engl. fuel poverty), so lautet der wissenschaftliche Begriff für den Zustand, wenn Menschen es sich nicht mehr leisten können, ihre Wohnung zu heizen. Genauer: Wenn zehn Prozent des Einkommens nicht ausreichen, um die Heizkosten zu zahlen. Die Weltgesundheitsorganisation (WHO) empfiehlt als angemessene Zimmertemperatur eine Temperatur zwischen 18 und 21 Grad. Dass diese Temperatur dieses Jahr für viele Menschen unbezahlbar werden wird, ist abzusehen. Doch auch schon vor Krieg, Inflation und Energiekrise war Energiearmut bereits ein Problem: In Deutschland leben zwischen 4,5 und 14 Prozent der Menschen dauerhaft in Energiearmut, in Österreich zwischen drei und 15 Prozent. (Die Schätzungen weichen deswegen so weit voneinander ab, da es unterschiedliche Messweisen und Definitionen von Energiearmut gibt.) Doch dies ist nicht nur ein ökonomisches Problem für die Betroffenen, die Energiearmut zeichnet sich auch als konkretes psychisches und körperliches Leiden ab.
Auswirkungen von Kälte
Kälte macht krank. Das wissen wir vor allem aus Ländern, in denen neoliberale Austeritätspolitik stark ausgeprägt ist, aber gleichzeitig die Public-Health-Forschung der deutschen und österreichischen einen Schritt voraus ist, zum Beispiel England. Kälte schwächt das Immunsystem und führt somit zu einem höheren Risiko zu erkranken und, letztendlich, zum Tod. Ältere Menschen sterben in Folge der Kälte von ungeheizten Wohnungen öfter an Herz- oder Lungenkrankheiten. Da ungeheizte Wohnungen häufig feucht sind und sich Schimmel bilden kann, erkranken jüngere Kinder in solchen Umgebungen oft an Atemwegserkrankungen. Chronische Erkrankungen wie Asthma und Arthritis nehmen zu, die sich auch in Sommermonaten und ein Leben lang auf das Wohlbefinden auswirken.
Auch die indirekten Effekte von Energiearmut sind nicht zu unterschätzen. In Haushalten, die in Armut leben, muss von den Bewohner:innen die Entscheidung gefällt werden, ob geheizt oder gegessen werden soll. Mangelernährung ist oft die Konsequenz dieses Entscheidungszwangs. Zudem schränkt Kälte den Bewegungsradius ein; qualitative Studien mit Jugendlichen zeigen, dass Familien, die es sich nicht leisten können, die ganze Wohnung zu heizen, tagsüber nur einen Raum benutzen. Einen warmen und privaten Rückzugsort gibt es für die Jugendlichen dann nicht mehr. Jugendliche, die sich so einen Ort außerhalb der Familie suchen, gehen oft andere Risiken ein, die sich auf die Gesundheit auswirken; wärmere Orte werden außerhalb der Familie gesucht oder die Zeit wird auf der Straße verbracht.
Der Stress, dauerhaft in einer unangenehmen Wohnsituation zu leben, führt oft zu psychischen Problemen. Jugendliche, die in Energiearmut leben, haben ein fünfmal höheres Risiko, eine psychische Erkrankung zu erleiden. Depressionen und Angsterkrankungen sind dabei die häufigsten psychischen Folgen von Energiearmut.
Verschärfung der gesundheitlichen Ungleichheit
Energiearmut verschärft die gesundheitliche Ungleichheit. Das heißt, ärmere Menschen sind stärker von Energiearmut und ihren gesundheitlichen Folgen betroffen. So sind Wohnungen in günstigeren Wohngebieten häufig schlechter isoliert. In Kombination mit fehlenden finanziellen Mitteln zum Heizen verstärkt sich somit die Energiearmut von Menschen mit niedrigem sozioökonomischem Status. Zudem haben arme Menschen häufiger Vorerkrankungen, die sich durch Kälte verschlechtern. Das gilt sowohl für körperliche als auch mentale Krankheiten.
Die gesundheitlichen Auswirkungen von Kälte auf Kinder zeichnen eine ungleiche Entwicklung vor. Ärmere Kinder, die in kalten und nassen Räumen aufwachsen, entwickeln chronische Krankheiten, die später zu Nachteilen im Vergleich zu ihren Altersgenoss:innen führen. Dieser Zusammenhang wurde schon von Marx und Engels (MEW2) aufgezeichnet: „Das neunjährige Kind eines Fabrikarbeiters, das unter Mangel, Entbehrung und wechselnden Verhältnissen, in Nässe, Kälte und ungenügender Kleidung und Wohnung aufgewachsen ist, hat bei weitem nicht die Arbeitsfähigkeit des in gesunderer Lebenslage erzogenen Kindes.“ Auch wenn Kinder heutzutage hier nicht mehr in der Fabrik arbeiten müssen, zeigt sich die Benachteiligung in schulischen Leistungen und wirkt sich somit auch langfristig auf den beruflichen Erfolg aus. Kälte führt also ein Leben lang zu sozialer Benachteiligung und Krankheit.
Die Verhältnisse, in denen gelebt wird, beeinflussen also maßgeblich die Gesundheit. Das heißt auch, dass Krankheiten und Tod in Folge von Kälte verhindert werden können! Medizinische Behandlungen sind in diesem Fall nicht so effektiv wie gut isolierte Häuser oder niedrige Heizkosten. Letztendlich ist jedoch klar, dass der Kausalfaktor Armut in dieser Gesellschaft nicht akzeptiert werden darf. Denn momentan bestimmt das Einkommen, wer friert, erkrankt oder stirbt. In der kapitalistischen Gesellschaft, in der wir leben, wird Krankheit als persönliches Versagen und nicht als gesellschaftliche Verantwortung begriffen. Somit werden die gesellschaftlichen Verhältnisse, aus denen Krankheit resultiert, ignoriert. Die beste Medizin gegen Kälte und Krankheit diesen Winter wird sein, diese Verhältnisse zu hinterfragen und zu verändern.
Marike Andreas