MALMOE

Dichte Welten

Gestörtes Störendes #24

Soziale Arbeit hat ein Problem mit Gewalt in ihren Einrichtungen. Es fehlt an wirksamen Programmen für Täter*innen und nachhaltigem Schutz für Betroffene

„Vielleicht ist dann das Gefängnis die Lösung.“ Die Sozialarbeiterin, mit der ich telefoniere, war immer sehr nett, aber jetzt irritiert sie mich. Ich kenne die Person, über die sie spricht, und weiß, dass sie vieles versucht hat, um mit ihrem Klienten, L., auf einen grünen Zweig zu kommen. In ihrer Aussage zeigt sich aber mehr als individuelle Überforderung. Sie offenbart auch, dass der Sozialbereich das Problem zwischenmenschlicher Gewalt strukturell verfehlt, die Opfer nicht selten im Stich lässt und sich anstelle effektiver Täterinnen-Arbeit auf Justiz und Polizei verlässt.

Meine Perspektive ist von fast 20 Jahren Arbeit im Bereich geprägt, zumeist im betreuten Wohnen. In diesen Jahren habe ich neben sehr viel Alltäglichem, viel WG-Chaos und stetiger Arbeitsverdichtung auch unfassbar viel gegenseitiges Verständnis, Solidarität und Zärtlichkeit erlebt. Aber eben auch einiges an Wut, Streit, verbaler und physischer Gewalt – alles erhebliche Belastungsfaktoren für Bewohnerinnen und Mitarbeiterinnen.

Von Gewalt und Übergriffen betroffene Mitbewohnerinnen müssen, aufgrund der prekären Förderungssituation und knapper Ressourcen, oft mit aggressiven Personen weiterhin zusammenwohnen und können nicht adäquat geschützt werden.


Diese wiederum kommen häufig aus ihren Mustern nicht heraus. Ein konstruktives, individuell zugeschnittenes Arbeiten an den Problemen, die ihrem Verhalten zugrunde liegen, ist leider die Seltenheit, weil es strukturell in den sehr dichten Lebens- und Arbeitswelten keinen Raum hat. So finden sie keinen adäquaten Umgang mit ihren Emotionen – bis ihnen irgendwann der Betreuungsvertrag gekündigt wird oder sie aufgrund der Härte der Fälle im Gefängnis landen.


L. braucht immer Geld. Mehr Geld, als seine gesetzliche Vertretung ihm in täglichen Rationen auszahlt. L. wünscht sich, sein Geld selbst zu verwalten, um anderen etwas schenken zu können oder einen vollen Kühlschrank zu haben.


L. kommt mit seinem Geld nicht aus. Das liegt daran, dass ihm nicht viel zur Verfügung steht, aber auch ein wenig daran, dass er sich durchs Einkaufen selbst wertschätzt und belohnt. Kaufen ist für ihn Lebensfreude, Beschäftigung und auch ein Trost gegen die Einsamkeit. Wenn kein Geld da ist, fühlt er sich oft schlecht.


L.s starke Emotionen sind schwer auszuhalten. Er tut sich schwer, ein Nein zu akzeptieren, egal ob es um Aufmerksamkeit, finanzielle Angelegenheiten oder gemeinsam zu verbringende Zeit geht. Und L. hat ein echtes Problem mit Wut. Wenn er wütend wird, haben Menschen Angst vor ihm – nicht unbegründet, denn das kann in physische Gewalt umschlagen. Er selbst würde wahrscheinlich sagen, dass er hier das Opfer ist. Fremdbestimmt, ohne Verfügung über sein Einkommen, seinen Wohnort, seinen Lebensweg. Kein Wunder, dass er wütend ist.


Es ist nicht an mir, L.s Geschichte zu erzählen. Das, was ich davon mitbekommen habe, macht mich sehr traurig. Und es löst auch in mir Wut aus – darüber, dass das Kind, das L. einmal war, nicht besser beschützt wurde. Dass es mit Dingen zurechtkommen musste, die selbst Erwachsene zu Fall bringen. Und Wut auch darüber, dass der Erwachsene, der L. nun ist, in einem System lebt, das Traumatisierte nicht beglückwünscht, überlebt zu haben, sondern – leider noch immer – beschämt, Hilfe zu brauchen.


Dennoch ist L. nicht nur Opfer, nicht nur jemand, dem schlimme Dinge widerfahren sind, sondern er hat auch selbst anderen schlimme Dinge angetan und es fällt ihm sehr schwer, dies anzuerkennen und sich damit reflektiert auseinanderzusetzen.


L. ist eine von vielen Personen, die Soziale in Anspruch nehmen und stationär betreut werden; mit seiner Gewalt-Thematik gehört er unter ihnen zu einer Minderheit.
Personen, die gewalttätig sind, wegzusperren und keinen angemessenen Rahmen für Weiterentwicklung bereitzustellen, verstärkt zum einen die individualisierten Probleme von L. und zeigt zum anderen die Unfähigkeit unserer Gesellschaft, mit Problemen, die sie mit hervorbringt, adäquat umzugehen.


An Menschen wie L., die sowohl Opfer als auch Täter*innen sind, zeigt sich, wie dringend notwendig es ist, dass der Sozialbereich eigenständige Antworten auf Gewalt und Aggression findet – jenseits von Ausschluss aus der Betreuung und Überantwortung an den Strafvollzug.