Ein Bericht von der Entwicklungstagung 2020
Zwei Tage im November, vier Webinars, zehn Expert_innen aus drei Regionen des Globalen Südens: Das war die Entwicklungstagung 2020 des Paulo Freire Zentrums mit dem Titel „Global inequalities in the Covid-19 pandemic“.
Tagungssprache war Englisch, lateinamerikanische Sprachen wurden ins Englische übersetzt, der folgende deutsche Text ist deshalb eine mehrfache Übersetzung – nicht nur von Sprachen, sondern auch von Verstehen. Die hier präsentierten Statements sind also nicht als direkte Zitate, sondern als sinngemäße und gekürzte Wiedergaben zu verstehen.
Teil 1: Asien – Das „Twin-Disaster“
Paula Banerjee, Universität Kalkutta/Indien, Präsidentin der Internationalen Assoziation für Studien über erzwungene Migration (iasfm.org): : Die Situation der Binnenmigrant_innen in Indien, die in Privathaushalten oder auf Baustellen oder als Straßenhändler_innen arbeiten, wurde schon vor der Pandemie viel zu wenig beachtet. In Indien herrscht sozusagen schon seit Jahrhunderten „Social Distancing“, und zwar zwischen den Kasten.
Im Lockdown, der Ende März überfallartig verhängt wurde, wussten dann rund 40 Millionen Binnenmigrant_innen nicht mehr, wovon sie leben sollten, und viele von ihnen versuchten verzweifelt, aus den Großstädten in ihre Herkunftsregionen zurückzukehren.
Venkat Ramnayya, Organisationsberater und Trainer für lokale Aktivist_innen (youthforaction.in):In Indien und ganz Südostasien kommen Covid-19 und der Klimawandel als „Twin-Disaster“ zusammen. Ökonomischer, psychologischer und gesundheitlicher Stress bei den ärmeren Menschen werden sowohl von der Pandemie als auch vom Klimawandel verstärkt.
Paula Banerjee: Der Taifun Amphan hat Mitte Mai viele jener Dörfer komplett zerstört, in die die Binnenmigrant_innen flüchten wollten oder schon geflüchtet waren.
Sanam Amin, Politikberaterin, Bangkok/Thailand: Für das „Twin-Disaster“ müssen auch die Lösungen zusammengedacht werden, und der Nationalismus wird es nicht sein. Manche Regierungen nutzen die Situation aus und behaupten, dass sie aus Gesundheitsgründen die Grenzen schließen und bestimmte Rechte beschneiden „müssen“, zum Beispiel Arbeits-, Frauen- und gewerkschaftliche Rechte. Die informelle Arbeit, die in vielen Sektoren in Südostasien vorherrscht, beschert einfach zu große Profite – selbst jetzt. Wir müssen also auch über den Kapitalismus reden und darüber, dass ja gewisse umweltzerstörende Handlungen solche Pandemien erst auslösen. Bei uns ist der Klimawandel tägliche Realität – wir können nicht, wie im Globalen Norden, dieses Thema wegen der Pandemie mal kurz aufs Wartegleis stellen.
Venkat Ramnayya: Ich höre, bei euch im Globalen Norden wird nur noch über Covid geredet? Wir hier verbinden das mit dem Kampf gegen den Klimawandel, und das sollte der Norden auch machen. Dieses Mädchen aus Schweden ist ja für uns alle ein Vorbild.
Teil 2: Lateinamerika – Das Ende der Populisten?
Ivo Lesbaupin, Soziologe und Koordinator von ISER/Assessoria (Forschungs- und Beratungsinstitut für Religionsstudien) in Rio de Janeiro/Brasilien: Die Regierung Bolsonaro zerstört systematisch öffentliche Wohlfahrtseinrichtungen zugunsten von Privatunternehmen. Hätten sich nicht viele, auch in den Favelas, selbst organisiert und gegenseitig geholfen, wären die Todesraten noch viel höher. Während Regierende schon über die Rückkehr zur „Normalität“ reden, versucht die Zivilgesellschaft, Lehren aus der Pandemie zu ziehen. Wir Aktivist_innen haben noch nie so viel diskutiert wie jetzt landesweit via Internet. Und Bolsonaro verliert langsam an Zustimmung.
Tarcila Rivera Zea, Gründerin von CHIRAPAQ, dem Zentrum für indigene Kulturen Perus (chirapaq.org.pe): Indígenas in Lateinamerika leiden unter der anhaltenden Kolonisation und kämpfen quasi immer gegen Ungerechtigkeit. Aber es gibt Punkte, an denen die durch Covid-19 ausgelöste Krise spezifisch problematisch ist: Bildung im Lockdown übers Internet ist zum Beispiel eine schöne Idee – kommt aber aus den Städten, wo alle Internet haben. Für uns hat der Verlust der Arbeit besonders von Tagelöhner_innen, im Lockdown bedeutet, dass sehr viele Indígenas in die ländlichen Gemeinden zurückgekehrt sind und dort jetzt die Armut droht, weil diese Gemeinden von gewaltsamer Landnahme, Verlust der Biodiversität und Rassismus ohnehin schon betroffen sind. Doch die Vernetzung der Indígenas weltweit hat jetzt ebenfalls zugenommen.
Teil 3: Afrika – Tax Justice Now!
Die dritte Sprecherin in diesem Webinar, Attiya Waris, die einzige Professorin für Steuerrecht und Fiskalpolitik in Ostafrika, konnte ihre Internetverbindung in Nairobi/Kenia nicht aufrechterhalten und fiel leider aus.
David Kabanda, Jurist und Mitbegründer des Center for Food and Adequate Living Rights (cefroht.org) in Wakiso/Uganda: In Ostafrika führte eine vielerorts schlechte Gesundheitsinfrastruktur und unzureichende soziale Absicherung im Lockdown dazu, dass die Armutsraten bei Älteren, Frauen*, Flüchtlingen, Migrant_innen und Indigenen gestiegen sind. Die Ungleichheiten sind größer geworden.
Covid-19 hat zudem die Korruption vieler Regierungen enthüllt. Seit der Abuja-Deklaration der Afrikanischen Union von 2001 sollte eigentlich deutlich mehr Geld in die Gesundheitsversorgung investiert werden, was aber nicht geschehen ist – und das rächt sich jetzt in der Pandemie.
Luckystar Miyandazi, internationale Steuerexpertin, derzeit in Brüssel/Belgien: Viele Staaten der Region Afrika erreichen nicht jenes Steueraufkommen, das als Ausgangswert für staatliches Handeln gilt, mit dem also öffentliche Einrichtungen überhaupt erst finanziert werden können. Aber auch für die anderen Staaten gilt: Steuer- und Kapitalflucht und illegale Finanzflüsse führen zu enormen Einnahmenverlusten. Dazu kommt die gar nicht illegale Steuervermeidung, die multinationalen Konzernen recht leichtfällt. Einerseits weil sie von Staaten Lockangebote erhalten, insbesondere die „Tax Holidays“, die oft für Jahre gelten, andererseits haben die Multis das Know-how, um weltweit Steueroasen zu nutzen. Am Ende dieser Vorgänge fließen hohe Summen aus Afrika ab – und zugleich kommt Geld über Hilfsprogramme wieder zurück, vor allem aus der EU,. Dieses Geld ist dann jedoch an die Vorstellungen und Auflagen der „Helfenden“ geknüpft.
Um die Verluste zu kompensieren, erhöhen Staaten zum Beispiel ihre Steuern auf Konsum, und zwar auf praktisch alle Produkte, auch jene der Grundversorgung. Oder sie minimieren die öffentlichen Gesundheits- und Bildungsleistungen. Steuertricks haben also enorme soziale Auswirkungen. Und die Frage der Steuergerechtigkeit wird übrigens auch die Frage eines gerechten Zugangs zu Covid-19-Impfstoffen beeinflussen.
Im Chatroom des Webinars wurde nach den Covid-19-Zahlen aus Afrika gefragt: Wieso sind sie in manchen Ländern so hoch und anderswo kaum vorhanden? Luckystar Miyandazi gab zu bedenken, dass arme Länder oft gar keine Mittel haben, um ihre Bevölkerungen zu testen, und dass andererseits die reicheren Länder über Tourismus und Wirtschaftsbeziehungen im weltweiten Austausch stehen und von der pandemischen Verbreitung des Virus so auch stärker betroffen sind.
Teil 4: Global View – Kein Zurück
Im letzten Webinar wurde nach den Lehren gefragt, die aus historischen und aktuellen Erfahrungen mit Pandemien gezogen werden können, und es wurde um einen Ausblick gebeten.
Jayati Gosh, Wirtschaftswissenschaftlerin an der Jawaharlal Nehru University, Neu-Delhi/Indien: „Historisch war es bisher immer so, dass Pandemien, wie die Pest oder die Spanische Grippe, an der auch in Indien Millionen Menschen gestorben sind, zunächst einmal autoritäre Tendenzen begünstigt haben. Aber so muss es nicht sein! Allein, dass wir weltweit auf Themen wie Care-Arbeit und die desaströse Produktion unserer Lebensmittel blicken, lässt mich hoffen, dass die Menschheit etwas gelernt hat.“
Luckystar Miyandazi: „Das sehe ich auch so. Aktionen wie Massenüberwachungen oder Wahlverschiebungen werden von autoritären Staaten nun zwar gesetzt, aber die Akteure sind alte Männer, deren Zeit sowieso gerade abläuft!“
Dorcas Erskine, Spezialistin für die Prävention und Reaktion auf Gewalt gegen Frauen und Mädchen in von Konflikten betroffenen Ländern, derzeit in Zürich/Schweiz: „Unsere Realitäten pendeln tatsächlich zwischen ermutigenden und deprimierenden Dingen. Und es ist noch zu früh zu sagen, wo das politisch enden wird. Als erfahrene Aktivist_innen wissen wir aber, dass wir eingreifen können! Frauen*organisationen machen es vor, agieren lokal, retten zum Beispiel Frauen* aus gewalttätigen Beziehungen. Auch die Demos in Belarus sind sehr ermutigend, oder der Widerstand der Pol_innen gegen ihre Regierung – oft sind das Frauen*, die nie zuvor auf einer Demo waren. Aber es ist nicht überall in gleicher Weise möglich, sich zu organisieren und sich einzumischen. Es zeigt sich: Wo es schon vor der Pandemie NGOs gab, kann auch jetzt etwas getan werden. Wo es diese soziale Infrastruktur nicht gibt, muss sie jetzt sofort errichtet werden.“
Jayati Gosh: „Auch hier in Indien gab es riesige Proteste im ganzen Land mit vielen Menschen, die noch nie auf einer Demo waren, und zwar gegen die Schlechterstellung der Moslems. Covid-19 war dann die Gelegenheit, diese Proteste umgehend abzudrehen und Aktivist_innen einzusperren – aber das ist nur ein Moment, denn der Wunsch nach Gerechtigkeit wird erhalten bleiben.“
Luckystar Miyandazi: „In Afrika wurden viele starke zivilgesellschaftliche Allianzen, vor allem von Jugendlichen, auf Community-Ebene aufgebaut, die ebenfalls nicht so schnell verschwinden werden. Aber wir müssen uns weiter global vernetzen und dürfen nicht auf eine „Post-Covid-Zeit“ warten, weil wir ja nicht wissen, ob es sie jemals geben wird.“
Jayati Gosh: „Schon angesichts des Klimawandels darf „post-pandemisch“ keinesfalls ein Zurück zum Gewohnten bedeuten.“
Webtipps:
www.feministcovidresponse.com
www.womenonweb.org
www.unwomen.org
www.ilo.org