Ein Buch über Eurodance und die Spuren, die er hinterlassen hat
(Alb-)Traumsequenzen, Zitaten und wiederkehrenden Textstellen. Die einzig verlässliche Konstante heißt Eurodance. „Ich frage mich, welche Stimmung damals von dieser Musik ausging, welche Gefühle es waren, die da bei Volksschulkindern ausgelöst wurden. […] Zum ersten Mal in klangliche Sphären kippen, zum ersten Mal eine Idee vom Wegspacen kriegen. Jausenbrote verschimmeln lassen und elektronische Musik entdecken.“
Die drei Hauptpersonen des Buches leben zusammen in einer WG in Wien. Ruth, eine ehemalige Profiskaterin mit stark ausgeprägtem Ordnungssinn, Daniel, weinerlicher Maler außer Dienst mit einer Vorliebe für Dark Wave, sowie Alex, Autorin mit Schreibblockade und Hauptmieterin der Wohnung, in der sie Unmengen an Büchern, Ordnern und Küchengeräten hortet. Ruth verbringt ihre Tage im Skatepark, wo sie die Nachwuchshoffnungen verbal in die Schranken weist, um den Schmerz über das eigene Karriereende nicht zu groß werden zu lassen. Daniel muss entweder zum AMS-Termin („,Handgriff‘ sagt sie und streckt ihm die Hand entgegen […]. Weil er sich nicht sicher ist, ob das gerade eine Aufforderung, Ankündigung oder ihr Nachname war, nuschelt er nur halblaut ,Bielinski‘ in sich hinein. Die Betreuerin bittet ihn, ihr zu folgen …“) oder treibt sich auf skurrilen Kunstevents herum und ist hauptsächlich damit beschäftigt, nicht in Ohnmacht zu fallen.
Alex pendelt zwischen Psychotherapie, Unibibliothek und abgefuckten Gastwirtschaften im Wiener Speckgürtel, die sie zu „Recherchezwecken“ für ihr Romanprojekt besucht. Alle drei haben ein, wenn auch unterschiedlich geartetes, Suchtproblem. So viel zum Plot.
Mindestens genauso relevant wie dieser ist der titelgebende Musikstil Lento Violento, dessen Erfindung Gigi D’Agostino zugeschrieben wird und der bei allen drei Hauptfiguren mehr oder weniger sichtbare Spuren hinterlassen hat („,Wie gesagt […] das ist nicht so wirklich meine Musik.‘ ,Natürlich ist das auch deine Musik – du bist damit aufgewachsen, sie hat dich geprägt, sie hat uns alle geprägt, ob wir wollen oder nicht!‘“, entgegnet Alex Daniel an einer Stelle). Nicht nur inhaltlich, sondern auch formal ist Lento Violento beziehungsweise Eurodance der rote Faden des Buches. Die gesellschaftspolitische Relevanz von Eurodance wird erörtert, teils von den handelnden Personen, teils anhand von Zitaten – glücklicherweise findet sich am Ende des Buchs ein ausführliches Quellenverzeichnis.
Je weiter die Handlung voranschreitet, desto mehr rückt Alex in den Fokus. Die überaus scharfsinnige, im Umgang mit Menschen aber nur bedingt talentierte Autorin sieht das mehrmals zitierte Ende der Geschichte nach Francis Fukuyama endgültig gekommen, und zwar in Form der 1990er-Retrowelle. Zu ihrem Therapeuten sagt sie: „Nein, Sie verstehen das nicht: Die Ressourcen sind erschöpft! Es kommt NICHTS Neues mehr nach. Irgendwann ist einfach das Internet reingeplatzt und seither ist alles nur mehr ein mauer Remix … Irgendwelche Hyper-Versionen von Bestehendem, Post-Post-Mashups von allem, was eh schon da war. Es gibt ausschließlich Kombinationen, nichts Neues mehr – es ist aus!“ Eine temporäre Flucht nach Vorarlberg zeigt nicht die gewünschte Wirkung, die Therapiesitzungen drohen zu eskalieren. Es scheint unaufhaltsam bergab zu gehen, als plötzlich die Vengaboys ins Spiel kommen.
Maria Muhar (2022): Lento Violento, Kremayr & Scheriau, Wien. Selbstverständlich erhältlich im Stuwerbuch, Stuwerstraße 42, 1020 Wien.