Steht die iranische Republik nun angesichts der Proteste endlich vor dem Umsturz?
„The whole world is watching“ – ein Satz, den Demonstrierende bei den Anti-Vietnam-Demonstrationen in den USA schrien, wenn die Exekutive auf die Kriegsgegner_innen mit Knüppel und Gewalt losging. Gehört habe ich diese einprägsame Parole das erste Mal im Film The Chicago Seven – eine schnelllebige Verfilmung einer Anklage gegen sieben „Rädelsführer“ der Antikriegsbewegung in den 1970ern, die wegen Verschwörung vor Gericht gebracht wurden. Der Film reißt mit, zeigt wortgewandte, schlaue Helden, Vorbilder, die bis zum Schluss für die Sache einstehen, und endet damit, dass sich alle Protagonisten im Gericht erheben, um Gerechtigkeit auch gegenüber dem System zu demonstrieren, das sie eigentlich beschützen sollte. Ich glaube, es war kein Zufall, dass mir diese lautstark in den Ohren hallende Parole durch den Kopf ging, als ich das erste Mal von den aktuellen Protesten im Iran mitbekam.
Was im Iran zurzeit passiert, kann in seiner Bedeutung nicht unterschätzt werden, und der Grund findet sich nicht im Pathos: Bedeutend ist nicht, dass Frauen für ihre Rechte kämpfen und dafür auf die Straße gehen oder gar ihr Leben aufs Spiel setzen. Das ist der emotionale Aspekt, der berührt, der bewegt und der seine Berechtigung durch die unzähligen Geschichten von Unterdrückung, Demütigungen und Herabwürdigungen hat, Geschichten, die erzählt und gehört gehören, und Emotionen, die angeregt und erweckt werden müssen. Doch ausschlaggebend ist bei den stattfindenden Protestbewegungen nicht der Kampf um Frauenrechte. Die eigentliche Bedeutung dessen, was sich im Iran abspielt, findet sich eher in der iranischen Staatsräson. Was hier in Bewegung gerät, und zwar so stark, dass der Punkt der Stabilität bereits überschritten worden ist, ist die Grundlage der iranischen Staatsideologie. Es ist die religiös legitimierte Abspaltung der Frau aus der iranischen Gesellschaftsordnung als Raison d’Être der iranischen Republik, die gerade zusammenbricht.
Das Symbol dieser Abspaltung ist der Tschador. Was bedeutet das dann, wenn Frauen auf die Straße gehen und sich protestierend, ostentativ und ihr Leben aufs Spiel setzend, ihre Schleier runterreißen? Wenn die iranische Republik mit dem Tschador steht und fällt, wie kann dann die Protestbewegung im Sinne einer Analyse der Legitimation der iranischen Staatsform bewertet werden? Ist ein Umsturz absehbar und realistisch, oder ist das Einzige, was aus den Demonstrationen resultiert, Verschleppungen und Todesurteile?
Die iranische Frau als Grundpfeiler der Staatsideologie
Wer die staatskonstituierende Bedeutung der iranischen Frau als Subjekt verstehen möchte, muss den Islam zuerst einmal verstehen, und dafür muss man in die Zeit zurück.
Aufmerksamen Leser_innen wird aufgefallen sein, dass bislang der Begriff „Unterdrückung“ in Zusammenhang mit den iranischen Frauen, um die es hier geht, nicht erwähnt wurde. Der Grund ist, dass die Unterdrückung der Frau kein angestrebtes Ziel im Islam ist. Die Unterdrückung ist logische Folge einer Ideologie, die aus einer Religion speist, die im Vergleich zu den beiden anderen monotheistischen Religionen sich von materialistisch-historischen Bedingungen direkt ableitet. Nicht, dass diese Ableitung dem Christentum oder dem Judentum vermittelt oder unvermittelt fehlen würde, doch der Islam charakterisiert sich diesbezüglich rigoroser: Während sich die spirituelle Legitimation des Christentums irgendwann in institutionalisierten Machtbestrebungen und mystifizierten Glaubensverklärungen verlor, blieb der Islam in seiner ursprünglichen Form vorherrschend. Dies ist seine Stärke wie auch seine Schwäche: Von Anfang an war die kriegerische Verbreitung des Islams ein Bestandteil des eigenen Narrativs, Mohammad nie Sohn einer Jungfrau, kein Ebenbild Gottes und schon gar nicht Protagonist einer unglaubwürdigen Wiedergeburt. Der Prophet, immer nur Mensch, der die Missstände zu seiner Zeit an seinem Ort zu beheben gedachte und Moral und Sitte in eine Welt bringen wollte, die schlicht frei davon war. Er setzte Regeln des Zusammenlebens fest, wo es keine gab, und gründete so eine Gemeinschaft. Die Pflichtgebete z. B. resultieren aus dem Wissen, wie schnell der Mensch seinen Glauben verliert, wenn er ihn nicht regelmäßig praktiziert, eine Maßnahme, um Pietät sicherzustellen. Das Frauenbild stammt ebenfalls aus diesem Kontext: „Die Unterdrückung der Frau in Arabien vor dem Islam war bedauernswerter als in allen anderen Teilen der Welt, da sie nicht einmal das Recht zum Leben als Kind besaß und […] oft unmittelbar nach der Geburt lebendig begraben wurde“, schreiben Fatima Özoguz und Mihriban Özoguz in ihrem Buch Faszination Frau im Islam. Die Bedeutung von Fatimeh, der Tochter Mohammads, speist sich aus seinem ostentativen Respekt, den er für seine Tochter in der Öffentlichkeit zeigte. Etwas zu der Zeit noch nie Dagewesenes. Und darin liegt die Krux im Islam: Mit der Einführung des Islams wurde die gesellschaftliche Bedeutung der Frau in der Gemeinschaft gehoben, wie die bereits zitierten Autorinnen schreiben: „Das, was den Islam in den Augen seiner Anhänger vor anderen Lehren und Religionen auszeichnet und ihm eine besondere Faszination verleiht, ist sein präzises, konkretes und umfassendes Erörtern der gesellschaftlichen Rechte sowie der menschlichen und ethischen Würde der Frau. Jene Würde der Frau, die in ihrer Besonderheit liegt, bleibt in vielen Ideologien der Geschichte entweder unberücksichtigt oder wurde gar gegen sie missbraucht, um sie zu erniedrigen. Der Islam aber befreite die Frau vor Erniedrigung.“ Die Berücksichtigung, von der hier die Rede ist, ist die positive Bewertung dessen, was die Frau vom Manne unterscheidet, und die Überzeugung, dass diese Bewertung durch Glaube geschützt werden müsse. Um so eine gesunde Gemeinschaft hervorbringen zu können. Überzeugungen aus dem siebten Jahrhundert haben sich jetzt jedoch in unsere Zeit hineinpervertiert. Ein Prozess, der immer dort vorkommt, wo Bewertungen von gestern unreflektiert in das Heute übernommen werden.
Was du unterdrückst, wird am Ende dich beherrschen
„Welche könnte wohl, außer der Mutter, den Kindern all die Liebe, Hingabe, Aufopferung, Zärtlichkeit, Güte, die gesamte mütterliche Fürsorge von der Mutterbrust bis zu der Zärtlichkeit geben, die jedes Baby für seine geistig gesunde Entwicklung so dringend benötigt? Wer könnte die Jugend besser erziehen und formen als sie?!“, heißt es in dem Buch Faszination Frau im Islam. Aus der Logik wird der Frau eine außergewöhnlich bedeutende Rolle inhärent. Denn schlussfolgernd bedeutet dies: „Es möge verhütet sein, dass deine Familie deinetwegen zu den Unglücklichsten der Menschen werden!“ Die Frau als „anständiges“, in der Öffentlichkeit reizloses Wesen ist konstituierend für eine stabile Gesellschaftsordnung. Wenn die Frau Anreiz gibt für unmoralisches Verhalten und für Sittenlosigkeit, lässt sie Elemente in die Gesellschaft und in die Familie, die gesellschafts- und familienzersetzend sind. Der Tschador steht für eine Werteordnung, die bewusst den Mann zu einem willenlosen Opfer weiblicher Reize macht, weil der Islam die übergeordnete Schönheit der Frau gegenüber dem Mann so sehr anerkennt, dass er dem Mann nicht zutraut, einer reizvollen Frau gegenüber anständig sein zu können.
Die Frau hat solch eine übergeordnete Bedeutung für die staatliche Konstitution, dass sie fast an erster Stelle in der Präambel der iranischen Verfassung vorkommt: „Die Kräfte der Menschen, die bisher im Dienste der allseitigen Ausbreitung durch die Fremdherrschaft standen, werden ihre ursprüngliche Identität und ihre menschlichen Rechte mit der Errichtung der islamischen Gesellschaftsgrundlage wiedergewinnen. Es ist natürlich, dass die Frauen aufgrund der größeren Unterdrückung, die sie vom bisherigen abtrünnigen Unrechtssystem erfahren haben, mehr Rechte zurückerlangen werden. Die Familie ist die grundlegende Einheit der Gesellschaft und der Mittelpunkt der Entwicklung und des Fortschritts des Menschen. Bei der Familienbildung stellt die Übereinstimmung im Glauben und den Idealen, welche die Grundlagen des Reife- und Entwicklungsprozesses des Menschen ist, eine Grundforderung dar.“ (Özoguz und Özoguz) Unter „Unrechtssystem“, von dem hier die Rede ist, ist die Schah-Zeit gemeint, als Frauen sich immer mehr nach einem westlichen Bild orientierten. Was in der Verfassung des Irans explizit angeprangert wird. Es ist das Gegenmodell zur islamischen Frau, die sich so verhält, wie es Allah vorschreibt. Hier gelangen wir zu dem Punkt, der nicht überbetont werden kann: Die islamische Republik ist nicht einfach eine Republik von machtgeilen Männern, die auf viel Geld und Gold sitzen, und die ihre Bevölkerung unterdrücken, nur um ihre eigene Macht zu erhalten. Die islamische Republik ist ein Staatskonstrukt, das von Geistlichen regiert wird. Sie glauben an ihre Religion, sie glauben an die Worte Mohammads, sie glauben so sehr daran, dass Protestierende im Iran nicht als eine Bevölkerungsgruppe mit Forderungen betrachtet wird, sondern als vom Ausland instigierte Zerstörer_innen der islamischen Weltordnung. Die Verordnung, einen Hidschab zu tragen, ist im Iran total: Sie gilt für alle Frauen unabhängig von Staatsbürgerschaft oder Ethnie, und allein das zeigt schon den universalen Anspruch der Werte, die die Staatsideologie vertritt. Entscheidungen werden nicht von kalkulierten Machterhalten getroffen, sondern viel schlimmer: von Menschen, die wirklich an die Unumstößlichkeit der Werte dieser Religion glauben.
Am Ende bleibt vielleicht doch nur Pathos
Nun, was die Unterdrückung der Frau von anderen Oppressionen unterscheidet, ist eben genau die Bedeutung weiblicher Sexualität. Frauen können nicht als Gruppe, isoliert, konzentriert und aus einer Gesellschaft entfernt werden: Ethnische Minderheiten können als Einheiten, gesammelt, weggesperrt und sogar vernichtet werden, aber Frauen als solche nicht. Frauen sind so eng verzahnt mit der gesellschaftlichen Ordnung, weil sie – systematische Unterdrückung hin oder her – Mütter sind, Schwestern, Töchter, Cousinen und Freundinnen. Diese können nicht systematisch entfernt, vernichtet und getötet werden, ohne dass Partner, Väter, Söhne, Cousins und Freunde betroffen sind, was erklärt, warum auch Männer mit den Frauen im Iran solidarisch sind.
Der Moment, wo eine Frau einen Tschador runterreißt und damit eine Kugel in den Kopf in Kauf nimmt, entkräftet noch kein politisches System, dessen Legitimierung so sehr auf diesem Stück Stoff gründet. Aber wenn das Tausende tun, über Tage, Wochen, und Monate hinweg, dann wird die Ideologie des Systems, auf der es steht, fundamental infrage gestellt. Wenn der Iran als Staat auch nur einen Schritt Richtung Reform der Frauenrechte macht, dann entsteht daraus ein Domino-Effekt, der dazu führt, dass sich die ganze restliche Staatsräson auflöst. Das systematische Töten der Protestierenden mag eine altbewährte Strategie sein, aber wird nicht die anderen gesellschaftlichen Probleme im Iran wie Jugendarbeitslosigkeit, Inflation, Wasserknappheit auflösen, die in das Gefühl, nichts mehr zu verlieren zu haben, hineinspielen. Es gibt ganz klar keinen Weg zurück, weil die Menschen keine Angst mehr davor haben, islamische Vorschriften zu brechen und somit auch nicht mehr Angst vor dem Regime haben, was sie offenkundig zeigen, aber vor allem braucht es eine oppositionelle Führung, die nicht nur eine Alternative anbieten, sondern diese auch errichten kann.
Daher musste ich immer an den Film denken. Ja, die ganze Welt schaut zu, wie die iranische Republik erodiert, und ja, es ist als ein historisches Momentum zu bewerten, das seinesgleichen sucht, doch bei aller Aufregung dürfen wir nicht vergessen, dass selbst im unwahrscheinlichen Fall, dass die politische Opposition, die von den Monarchisten über die Volksmujaheddin bis zu Demokratiebefürwortern im Ausland zerstreut ist, einen Weg finden und die bärtigen Männern aus ihren Positionen schmeißen würde, sich die Mullahs, die religiösen Gläubigen und ihre Anhänger von gestern nicht einfach in Luft auflösen werden. Ebenso wenig wie ihre Ideen, dass unabhängige, sexuell aufreizende Frauen gesellschaftszersetzend wären. So ernüchternd diese Überlegungen auch sein mögen, sollen sie nicht die Bedeutung der gegenwärtigen Proteste runterspielen, doch ist klar, dass nur eine radikale Veränderung des politischen Systems im Iran einen Unterschied machen und dies nur mit politischer, finanzieller und intellektueller Unterstützung von außen möglich sein wird. Sehr wahrscheinlich ist, dass die restliche Welt sich nicht die Mühen antun wird, Iran in eine wie auch immer aussehende Demokratie zu verhelfen und tatsächlich nur zusehen wird. Der heutige Zustand an Protest, Kampf und Gegenwehr würde dann so lange weitergehen, bis wieder ein unvorhergesehenes Ereignis nochmal zusätzliche Kampfbereitschaft in weiten Bevölkerungsgruppen auslöst. Dass es die Frau ist, mit der die Erosion seinen Anfang nimmt, ist kein Zufall: Ihr Verhalten konstituiert die islamische Gesellschaftsordnung, mehr als das des Mannes, und heute zeigt sie dem islamischen Regime mit reizvollen Haaren den Mittelfinger.
Anahita Tabrizi
Anahita hat Internationale Entwicklung und Politikwissenschaften studiert. Sie war Redakteurin der ÖH-Zeitschrift Unique.