Eine Reflexion über die Rolle von Slut-Shaming und Victim-Blaming im Patriarchat und darüber, wie wir sexuelle Selbstbestimmung für alle erreichen können
Der folgende Text enthält explizite Beschreibungen sexualisierter und physischer Gewalt
Vor mittlerweile elf Jahren äußerte ein Polizist in Toronto in einem offiziellen Statement, dass Studentinnen Vergewaltigungen auf dem Universitätscampus verhindern könnten, wenn sie aufhören würden, sich „schlampig“ zu kleiden. Diese perfide Umkehr von Täter und Opfer ist keineswegs eine Ausnahme. Vielmehr ist der Umstand, dass diese Aussage von der Polizei getätigt wurde – einer Instanz also, die besser wissen sollte, wen bei Vergewaltigungen Schuld trifft –, eine unverkennbare Manifestation der Systematik jener patriarchalen Strukturen, die unsere Zivilisation durchseuchen. Eine Gruppe von solidarischen Studentinnen reagierte auf die Rede und organisierte den Slutwalk als Demonstration für sexuelle Selbstbestimmung. Die Bewegung verbreitete sich weltweit, und letztes Jahr gründeten wir, eine Gruppe in Wien lebender Aktivistinnen, das Slutwalk Kollektiv Wien, um das zehnjährige Bestehen zu feiern und auf die vorherrschenden Problematiken aufmerksam zu machen. Der diesjährige Slutwalk findet am 25. Juni statt, und auch abseits der Planung von Demonstrationen organisieren wir Veranstaltungen, betreiben Aufklärungsarbeit und setzen uns gegen Slut-Shaming ein. Slut-Shaming, also die Bezeichnung von „unangepassten“ Frauen* als Schlampen, ist ein Instrument zur Erhaltung unserer aktuellen gesellschaftlichen und sozialen Architektur.
Das Patriarchat ist gemäß seiner Wortbedeutung die „Vorherrschaft des Vaters“ und entstand schrittweise, als die Menschen sesshaft wurden und Besitzdenken entwickelten. Es entwickelte sich das Bedürfnis, das Eigentum vor anderen zu schützen – und dafür war es zuträglich, in der Überzahl zu sein. Zunehmend wurden Fruchtbarkeit und somit Frauen als Ressourcen gesehen. Die Patrilokalität, also das Erzwingen durch den Vater, dass Kind und Mutter bei ihm bleiben, wurde durchgesetzt. Um die neu gewonnene Macht zu rechtfertigen und zu legitimieren, wurden Erzählungen der männlichen Überlegenheit gesponnen, die schlussendlich mittels Gesetzen forciert wurden, so wie es Gerda Lerner in ihrem Buch Die Entstehung des Patriarchats schreibt. Die Unterdrückung der weiblichen Sexualität und sexualisierte sowie häusliche Gewalt wurden zu Durchsetzungsmechanismen für die Erhaltung und Ausweitung der eigenen Macht. Während Frauen heute mehr Rechte für sich beanspruchen können als noch vor einigen hundert Jahren, wurde unser Denken, Sprechen und Handeln durch misogyne Traditionen geprägt. Betrachten wir beispielsweise das Konzept der Schlampe: Die Schlampe ist in unserer Gesellschaft dazu da, Frauen* basierend auf ihrem Aussehen, insbesondere Kleidungsstil und imaginierten oder tatsächlichen Sexualverhalten in „gut“ und „schlecht“ einzuteilen. Das Outcallen einer Frau* als Schlampe dient explizit ihrer Diffamierung, weil sie sich nicht an den vom Patriarchat vorgegebenen, genderspezifischen Verhaltenskodex hält. Es dient auch als implizite Norm für die Gesamtheit der Frauen*, wie sie sich zu verhalten haben.
Der stille Vertrag
Die Praxis des Slutshaming steht somit symptomatisch für die Denkweise, die uns als Gesellschaft nach und nach übergestülpt wurde, ohne dass dies jemand aktiv gefordert oder den schleichenden Prozess auch nur mitbekommen hätte. Nach der Politologin Carole Pateman unterliegt unsere heutige demokratische Freiheit einer Art stillem Vertrag, der ihr eine Form gibt: dem Sexualvertrag. Gemäß dem Sexualvertrag sind Männer Frauen übergeordnet, während Frauen ihnen Aufmerksamkeit, sexuelle Verfügbarkeit und Fürsorge schulden. Dass auch unser Rechtssystem nach diesem Sexualvertrag agiert, zeigen aktuelle Rechtsprechungen in Österreich. Letztes Jahr wurde ein junger Mann, der einer Frau seine Hilfe beim Übersiedeln anbot und sie dann vergewaltigte, zu vier Monaten Haft verurteilt. Er sei „naiv und sehr einfach strukturiert“, sagte sein Verteidiger. Nach allgemeinem Verständnis ist es unverantwortlich, das Leben junger Männer, die Signale falsch deuten und untervögelt sind, wegen eines einzelnen Vorfalls mit „einem Mädchen“ zu ruinieren. Vor zwei Jahren Jahr klagten mehrere Frauen einen Wiener Orthopäden an, der sie laut eigenen Aussagen ohne Einverständnis mit seinen Fingern vaginal penetriert hatte. Eine von ihnen wurde nach der „Behandlung“ wegen eines Scheidenrisses im Spital behandelt. Das Urteil des Gerichts: Die osteopathische Methode namens Vaginal-Touché sei anerkannt, und da die Osteopathie in Österreich nicht gesetzlich geregelt sei, sei auch keine Straftat begangen worden. Laut allgemeiner Lehrmeinung ist Vaginal-Touché ein Allheilmittel, das von Inkontinenz, über Migräne bis zu „Orgasmusstörungen“ bei den verschiedensten psychischen und physischen Problemstellungen hilft.
Rape-Culture abschaffen!
Unsere gesellschaftliche Fixierung auf ein patriarchales Welt- und Menschenbild hat auch zur Folge, dass Frauen*, die auf Ungerechtigkeiten hinweisen oder erzählen, was ihnen angetan wurde, als Lügnerinnen und Psychopathinnen abgestempelt werden. Menschen, die sexualisierte Gewalt (seitens eines Mannes) erfahren, werden belehrt und zu Schuldigen gemacht: Sie hätten sich anders kleiden sollen, sie hätten nicht flirten sollen, sie hätten nicht so viel trinken sollen. Diese Täter-Opfer-Umkehr ist beruhigend, sie suggeriert, dass sexualisierte Gewalt nicht systematisch geschieht, sondern nur in einigen wenigen Ausnahmefällen durch psychisch kranke Männer. Das Othering des Vergewaltigers, die Vermittlung eines Bildes des Vergewaltigers als eines psychisch kranken Einzeltäters, ist Teil des Narrativs, nach dem Opfer sexualisierter Gewalt selbst dafür verantwortlich seien, sich vor sexuellem Missbrauch zu schützen, und folglich das gesellschaftliche System an sich nicht krankhaft sei. Das Victim-Blaming, das in der Folge des Bekanntwerdens von Vergewaltigungen zutage tritt, ist ein weiteres Instrument, das die Vorherrschaft des Patriarchats erhält. Frauen* wird gezeigt, dass sie die Vorfälle lieber für sich behalten sollten. Laut einer Studie des Österreichischen Instituts für Familienforschung erstattet nur eine von elf vergewaltigten Frauen und nur eine von fünfzehn Frauen, die sexualisierte Gewalterfahrungen machen, Anzeige, während circa ein Drittel aller Frauen sexualisierte Gewalt erfährt, bei behinderten Menschen ist die Quote noch höher. Das bedeutet, dass der Großteil der Sexualstraftäter niemals rechtliche Konsequenzen erfahren wird, sondern unbescholten herumläuft. Die beschriebenen Situationen und Mechanismen sind Symptome unserer gesellschaftlichen Lebensart, die sich als Rape Culture – Vergewaltigungskultur – bezeichnen lässt. Vergewaltigungen werden normalisiert und dienen als Erhaltungsmechanismus der vorherrschenden Machtstrukturen, während Frauen* sich hüten und in Acht nehmen sollen. Sie sind folglich nicht frei.
Um diese Freiheit zu erreichen, dürfen wir nicht still sitzen bleiben und uns unseren Teil denken. Wir müssen laut sein und Räume schaffen, indem wir uns mit anderen austauschen, unsere Erfahrungen teilen, von anderen lernen und uns unserer Grenzen bewusst werden. Wir müssen Sex enttabuisieren, die Scham rund um die Thematiken entfernen. Wir müssen den Umsturz der Rape-Culture zu einer Consent-Culture vollbringen: Sex darf nicht weiter als Unterdrückungsinstrument verwendet werden, er sollte frei und enthusiastisch passieren. Dafür braucht unsere Gesellschaft aufgeklärte Menschen. Menschen, die ihre Körper kennen und akzeptieren, Menschen, die wissen und propagieren, dass Masturbation und Sex nichts Schlimmes sind. Wir müssen außerdem aufhören, von Jungfräulichkeit zu sprechen, weil auch sie ein Konzept des Patriarchats ist. Die Vorstellung, dass es etwas am Wert einer Frau* ändert, wenn einmal ein Penis in ihr gesteckt hat, ist heterozentriert und misogyn. Zudem müssen wir strukturell Menschen mit Behinderung in unsere feministischen Kämpfe einbinden und aufhören, sie zu behandeln, als sei Sex und sexuelle Aufklärung für sie irrelevant. Gynäkologische Einrichtungen, Frauenhäuser und Ressourcen für Gewaltprävention und Opferschutz müssen zugänglicher werden. Und um die dargestellten Problematiken zu ändern, liegt es an uns, uns zu informieren und aktiv zu sein. Wir dürfen Ungerechtigkeiten nicht weiter über uns ergehen lassen. Wir sind auf dem richtigen Weg, aber der Weg ist noch lang.