MALMOE

Nachrichten aus dem beschädigten Alltag (#22)

Affenliebe

Ndakasi war eine Art Internetstar. Das mächtige Gorilla-Weibchen aus der Demokratischen Republik Kongo gesellte sich gerne mit auf Fotos, die die Pfleger des Senkwekwe Center von sich machten. Dabei schaute sie unverblümt und ein wenig zweifelnd ins Kameraauge. Die Selfies mit der Äffin gingen viral. Offenkundig suchte sie die Nähe der Menschen. Der Parkwächter Andre Bauma hatte 2007 das zwei Monate alte Gorillababy Ndakasi gefunden. Es lag in den Armen seiner toten Mutter, die von Milizionären erschossen worden war, die Berggorillas ohne besonderen Grund zu töten pflegen. Das entkräftete Affenbaby wurde von Andre Bauma an Kindesstatt aufgenommen. Er trug es an seiner nackten Brust wie eine Mutter, pflegte es und päppelte es auf. Das Unwahrscheinliche gelang und Ndaski wuchs zu einem stattlichen Gorilla heran. Im Bergland der Demokratischen Republik Kongo und dem angrenzenden Ruanda und Uganda gibt es nur mehr 1.000 Gorillas, die von 700 Parkwächtern unter Einsatz ihres eigenen Lebens geschützt werden. Der Parkwächter Bauma bezeichnete Ndakasi als eine gute Freundin. Das Tier sei einfühlsam und intelligent. Sie habe ihm die Verbundenheit zwischen Menschen und Menschenaffen gezeigt. Tatsächlich ist die Linie zwischen tierischem Instinkt und menschlicher Liebe zuweilen verschwommen. Im Herbst letzten Jahres wurde Ndakasi schwer krank. An ihrem letzten Tag kehrte sie in die Arme ihres Pflegers Andre Bauma zurück, um dort zu sterben.

Rattenbande

Der Maler Michael Sandler lebte Anfang des 19. Jahrhunderts und fertigte naturwissenschaftliche Zeichnungen für die Habsburgermonarchie an, die sich, einem Spleen folgend, mehr für „Wissenschaft“ als für Künste erwärmte. Die Nachfrage war groß und Sandler spezialisierte sich. Für die Sammlung Kaiser Ferdinands zeichnete er fast ausschließlich Affen und Ratten. Die Royals wussten einfach sehr genau, was ihnen gefiel. Die Bilder selbst haben bestenfalls einen kuriosen Charme. Sie sind völlig frei von Leben, so als hätte Sandler ausgestopfte Tiere abgezeichnet, und manche Darstellungen sind nicht weit entfernt von jenen im Internet kursierenden Galerien mit Fotos von missglückten Tierpräparaten. Irgendwie passt das alles ganz gut zusammen. Die lebenden Leichname der Habsburger hatten einen Narren dran gefressen, Bilder von toten Tieren zu sammeln, insbesondere aus exotischen Gegenden, in denen alles erledigt wurde, was nicht bei „drei“ auf dem Baum war. Die österreichische Nationalbibliothek wurde später mit dem Plunder beschenkt und sorgt sich nun um deren Zustand der Blätter. Um Geld einzutrommeln, konnte nun glücklich Radio-Ratte „Rolf Rüdiger“ als Rattenbildpate gewonnen werden. Eine Handpuppe, bei der Augen, Nase und Ohren nur schleißig angenäht zu sein scheinen und die dadurch einen gewissen Zombie-Charme verbreitet. Auch sie passt exzellent in das Panoptikum verballhornter Natur.

Werde ein Tiktok-Star!

Also MALMOE ist nicht die erste Adresse, wenn es um Karrieretipps geht, das heißt aber nicht, dass wir uns nicht auskennen würden mit der Theorie zum Karrieresprung. Lust ein Musikstar zu werden? Das geht heute über Tiktok. Die sozialen Medien haben den kaputten Musikmarkt nochmals durcheinander gewickelt. Zur Erinnerung: Früher gab es Plattenlabels, die nahmen Künstler*innen unter Vertrag und beuteten sie schamlos aus. Ohne die Labels gab es aber keinen breitenwirksamen Zugang zur Öffentlichkeit. Heute nicht mehr nötig. Schlaue Contentproduzentinnen (das sind Musikerinnen heute) brauchen die Labels nicht mehr. Sie werden zwar immer noch von Musikgesellschaften angefragt, wenn sie viral gehen, bekommen dann aber lediglich ein Darlehen, das sie seelisch und finanziell ruiniert. Warum sich also nicht allein auf den Marktplatz hauen, wenn man ohnehin alles selbst kann (und können muss)? Hier das Leben einer erfolgreichen DIY-Musikerin im Jahre 2022: 1. Ganz früh aufstehen, Zeitmanagement ist Key. Die Konkurrenz ist bereit die „Extra Mile“ zu gehen, du also auch. Wer gerne lange schläft, ist bald aus dem Rennen, Weekend oder Ferien gibt es nicht. 2. Poste drei bis vier Ereignisse am Tag (jeden Tag!). Habe stets neue Kleidung und überraschendes Auftreten am Start. Visagist*in und Stylist*in ist man selbstverständlich auch selbst. 3. Achte immer auf die Technik, perfekte Ausleuchtung, bester Sound sind unumgänglich, hier hilft das jeweils neueste Equipment, mit dem du dich in deiner nicht vorhandenen Freizeit eingehend beschäftigen solltest. Grafikdesign will auch beherrscht sein – logisch. 4. Networke bis sich die Balken biegen. Wer hilft dir, wer verschafft dir Klicks? Wo ist die nächste strategische Freundschaft? 5. Ganz wichtig: Sei immer, wirklich immer, gut drauf. Kritik kommt nicht gut, es sei denn, es machen alle. 6. Sei du selbst! Und zwar genau so, wie es die anderen von dir erwarten. 7. Mach am Ende auch noch irgendwas mit Musik, achte darauf, dass die Musik nicht länger als 18 Sekunden dauert, weil sie sonst nicht von anderen in ihren Videos verwendet wird. 8. Viel Spaß und alles Gute!

Intersubjektivität

Es klingelt an der Tür. Der Mann vom Wasserwerk schaut etwas betreten zu Boden. „Entschuldigen S’, es betrifft Sie nicht direkt, aber in der Soundso-Straße ist eine Baustelle und wir müssen Ihnen für sechs Stunden das Wasser abdrehen. Am Montag. Ich sag Ihnen noch genauer Bescheid. Nur dass Sie’s wissen.“ – „Okay, danke.“ Er verschwindet und die Tür schließt sich bereits wieder. Zugleich öffnet sich die Frage, welche Art Maßnahmen des Wasserwerkes mich „direkter betreffen“ könnten als das Abdrehen des Wassers? Könnte es sein, dass der Mitarbeiter mir eine Rohrzange durch die Tür reicht und sagt: „Wir brauchen jetzt ihre direkte Mitarbeit, wenn sie jemals wieder fließendes Wasser haben wollen!“ Unwahrscheinlich. Eher zeigt sich, wie Intersubjektivität funktioniert. Die Intersubjektivität stellt sich stets das Nicht-Ich als Erweiterung des eigenen Ichs vor. Meine Wohnung liegt gar nicht in der Soundso-Straße, in der die Bauarbeiten stattfinden, sondern lediglich in der Nähe. Für die Bauarbeiter*innen ist sie somit nicht „direkt betroffen“, weil ja hier keine Arbeiten stattfinden. Sie hängt aber zugleich an derselben Wasserleitung, weshalb ich, an dieser Leitung hängend, für mich selbst „direkt betroffen“ bin.

MALMOE einhundert

In der Stadt Villach leben 65.000 Menschen. Ihr Bahnhof ist ein hochfrequentierter, bedeutender Verkehrsknotenpunkt. Der an diesen Orten übliche Zeitschriftenladen, mit Büchern, Mitbringseln und internationalen Zeitungen, hat vor ein paar Jahren geschlossen. Es ist heute gar nicht einfach, in Villach noch eine Zeitung zu kaufen. Es gibt ja ohnehin schon lange keine Villacher Zeitung mehr, sondern nur lokal mutierte Kleine und Krone, die wenig Lust aufs Lesen machen. Das Zeitungsregal in den Supermärkten schrumpfte kontinuierlich mit den Jahren. In den meisten Märkten reduzierte es sich, wie überall in Austria, auf zwei bis drei Druckerzeugnisse an der Kasse. Jetzt ein Mitmachexperiment: Liebe MALMOE-Leser*innen, schließt die Augen und versucht euch an den Moment zu erinnern, als eine Person im Supermarkt, die mit euch an der Kasse gewartet hat, eine Zeitung auf das Förderband gelegt hat. Irre, oder? Diese Erinnerung gibt es eigentlich nicht mehr. Bitte einmal mit offenen Augen durch U-Bahn, Nah- oder Fernverkehrszug gehen und die Menschen zählen, die eine Zeitung lesen und nicht in ihr Handy, Tablet oder PC starren. Es sind nicht mehr viele, die alle etwas gemeinsam haben: Sie sind in Pension. Was als harmloses Geschichtlein aus der österreichischen Provinz begann, wird an dieser Stelle zu einer selbstreflexiven und existenziellen Frage, denn nanu, liebe, beste MALMOE-Leser*innen, was haltet ihr genau in diesem Moment in Händen? Richtig, ein Stück bedrucktes Papier! Haltet es, wenn ihr im Zug seid, kurz hoch, damit es die anderen Reisenden deutlich sehen können. Danke! Klar ist, hundert Ausgaben und über zwanzig Jahre MALMOE umspannen einen unglaublichen medialen Wandel. Als die MALMOE begann, war das Internet was für Nerds und alle Information auf Papier. Es hat sich viel getan, und MALMOE bemüht sich dies auch weiterhin kritisch und differenziert zu beobachten und zu kommentieren. In welcher Form dies in Zukunft genau passieren wird, ist noch nicht restlos geklärt, aber wir arbeiten dran. Versprochen.