Erst motiviert, dann nachlässig, meistens müde: Eine Woche auf der Diagonale
Das alljährliche Klassentreffen der österreichischen Filmbranche, die Diagonale, fand dieses Jahr wieder wie üblich im April statt. Auf dem Plan stand ein dichtes Programm, gespickt mit einigen Premieren, unzähligen Kurzfilmen, Retrospektiven, Gesprächen und dem wichtigsten: Partys. Also alles wie immer? Wohl kaum, denn mit den Fördergeber:innen im Nacken scheint das Festival wie besessen von der Frage, wie der Filmstandort Österreich von morgen aussehen wird.
In dieser Hinsicht schenkte sich die Diagonale mit dem Eröffnungsfilm Sonne (2022) von Kurdwin Ayub, produziert von Ulrich Seidl, eine wahre Musterschülerin, wie die „besondere Erwähnung“ im Rahmen der Preisverleihung der Berlinale-Sektion Encounters beweiste. Der anrüchige Hinterzimmer-Blick österreichischer Kinotradition macht Platz für die Coming-of-Age-Probleme einer zerstreuten Mittelschicht in Tiktok-förmigen Collagen. Wir müssen wohl oder übel mit der Zeit gehen. Ein Satz, der sich in einer 22 Jahre alten, linken Zeitung kaum schreiben lässt, ohne sich dabei auf die Lippe zu beißen.
Trotz aller Fortschrittsbegeisterung bleiben Galaevents wie jene Eröffnung gespenstisch zeitlos, um nicht zu sagen anachronistisch. Erst wird das spektakuläre 87-minütige Lehrstück in Sachen Dekonstruktion der neuen Regiehoffnung anerkennend beklatscht. Danach kann endlich wahlweise das Buffet mit steirischem Käferbohnensalat oder die Toilette angesteuert werden. Endlich! „Ja, endlich sehen wir uns mal wieder“, ist der genüssliche Unterton dieser Woche. Der anschließende RAUSCH, dem die Diagonale eine eigene Retrospektive widmete: unvermeidlich. So viel Österreich muss sein.
Klassenbeste:r im Rampenlicht
Wer sich am nächsten Tag verkatert aus dem Bett quälen konnte, dem begegnete mit der Werkschau des Regieduos Tizza Covi und Rainer Frimmel eine verträumte, feinsinnige Antithese. Das Œuvre des Paars ist noch keine 30 Jahre alt und hat erst 2020 mit Aufzeichnungen aus der Unterwelt ein neues „Meisterwerk“ abgeworfen, das auch in der MALMOE 94 schon besprochen wurde. Jeder ihrer Filme ist auf seine eigene Weise (trotz unverkennbarer Ähnlichkeiten untereinander) ausnahmslos sehenswert – wenn man sie nicht ohnehin schon alle gesehen hat. Die allgemeine Faszination für ihre Filme lässt sich eigentlich nur so erklären: Sie sind zu schön, um wahr zu sein. Wobei ‚Wahrheit‘ für das Regieduo eine ganz eigene Kategorie bildet, wie man in den Publikumsgesprächen erfahren durfte.
Moderiert vom Filmkritiker Bert Rebhandl erzählten Covi und Frimmel im Anschluss an fast jedes ihrer Screenings begeistert von ihrer Arbeit und den Menschen, die sie währenddessen kennenlernen durften. Beide verbindet mit den Protagonist:innen ihrer Filme oft eine jahrelange Freundschaft. Sie ermöglicht ihnen so intime Porträts zu filmen, wie in Babooska (2005), La Pivellina (2009) oder Mister Universo (2016) über Zirkusfamilien. Jede Szene überlistet spielerisch die Grenzen von Realität und Fiktion. Fast schon klandestin arbeitet das Regiepaar nur zu zweit mit ihren Protagonist:innen. Das Ergebnis gibt sich verkapselt, als würden die Filme mit einer familiären Sprache kommunizieren.
Zurück auf dem Schulhof
Es gehört zum Verdienst der beiden Festivalleiter Sebastian Höglinger und Peter Schernhuber, die 2023 zum letzten Mal antreten werden, dass die Diagonale nicht allein aktuelle österreichische Filme, sondern immer stärker auch historische Programme zeigt. Die Diagonale bildet damit aber gewiss keine Ausnahme. Offenbar richten sich die abseitigen Programme vornehmlich an junge Menschen, die in den meisten Fällen in irgendeiner Weise Film studieren oder in der Branche prekär beschäftigt werden. Trifft man zwischen Schubertkino, Rechbauer und KIZ Royal das ein oder andere bekannte Gesicht wieder, scheint sich dieser Eindruck zu bestätigen.
Gerade der umfangreiche Kurzfilmprogrammbereich bietet sich für junge Filmemacher:innen von den Kunst- und Filmakademien des Landes an, vor einem mehr oder weniger anonymen Publikum den eigenen Film inklusive Q&A zu zeigen, um im Anschluss die nötigen Kontakte zu knüpfen. Dabei wird natürlich deutlich, dass die Filmhochschule als Nabel der Welt nicht einzig und allein Zwecken der eigenen künstlerischen Entfaltung, sondern ebenso zur Ausbildung marktkonformer Arbeitsweisen oder Tradierung eines spezifischen Filmerbes dient. Die Möglichkeit, dass individuell ausgewählte Studierende Zugang zu teurem Equipment und Material erhalten, geschieht demnach nicht aus bloßer Philanthropie.
Waren Akademien im 17. und 18. Jahrhundert lose, vornehmlich private, Gruppierungen von Künstler:innen (in meisten Fällen ausschließlich Männer), so setzen sich im Zusammenhang nationaler Zusammenschlüsse staatliche Institutionen zur Regulierung und Standardisierung durch. Als erste Filmakademie im heutigen Sinne wurde 1920, zwei Jahre nach der Oktoberrevolution, in Moskau das Gerassimow-Institut für Kinematografie gegründet, an welchem unter anderem Sergei Eisenstein oder Wsewolod Pudowkin lehrten. Vor allem nach Ende des Zweiten Weltkriegs entstehen überall ähnliche, wenngleich weniger ideologisch geformte, Institutionen, in denen Filmemacher:innen zu Lehrer:innen werden, um ihr Wissen und ihre Erfahrungen weiterzugeben. Aber lassen sich diese einfach übertragen?
Die, die in der Ecke stehen
Mit dem Namen der Schule oder des Lehrmeisters wird gleichzeitig eine Marke und ein Vertrauensvorschuss mitgeliefert. So mag nicht verwundern, dass in unzähligen Ankündigungstexten immer wieder die Ausbildung von Filmemacher:innen betont wird. Ähnliches gilt auch für Tizza Covi und Rainer Frimmel, die beide zusammen das Kolleg für Fotografie an der Graphischen Lehranstalt in Wien besuchten. Ihre fotografische Arbeit, der die Camera Austria eine Ausstellung (Über die Ränder) widmete, verriet dabei einiges über die geschlossene Form ihrer Filme.
Ganz im Gegensatz dazu scheint der erste Film von Frimmel zu stehen. Er könnte getrost als schwarzes Schaf im vertrauten Familienbild des Gesamtwerks gelten. Nahezu gleichlautend wie der Klassenbeste von 2020 macht Aufzeichnungen aus dem Tiefparterre (1993–2000) durch seinen Tabubruch von sich reden, der schon vor über 20 Jahren und nun wieder für Diskussionen sorgte. Frimmel montierte darin Homevideos eines Mannes, den er während seines Zivildienstes kennenlernte, zu einem obskuren Selbstporträt. Er, Peter Haindl, spricht darin sogleich selbstüberzeugt wie selbstentlarvend in misogynen und rassistischen Monologen aus einer beklemmend-niedrigen Wohnung zur Kamera. Auf die Frage hin, ob man so etwas überhaupt noch zeigen könne, geriet Frimmel nach der einzigen Vorführung in Erklärungsnot.
So haarsträubend sich das Seherlebnis anfühlt, führte die Diskussion gleichzeitig das Problem einer tendenziell akademisch angeleiteten Filmkultur vor: So lassen sich einerseits wie im Seminarraum die Worte und deren Darstellung zu Recht einordnen oder kritisieren. Welchen Unterschied die spezifische Form des Films, vermittelt durch die Montage, dabei andererseits ausmacht, wird kaum thematisiert. Zwar reden Frimmel und das Publikum in der Diskussion offenbar aneinander vorbei, so unterscheiden sich ihre Positionen jedoch nur marginal. Beide Seiten betrachten ihre Perspektive als vollkommen und scheinen sich in objektiver Distanz zu begegnen.
Das radikal Subjektive, das dieser Film provoziert, lässt beide Seiten bemerkenswert kühl. Sie sehen einen Film und übersehen ihre Schnittmenge mit ihm. Vielleicht gibt sich darin ein Teil der Beklemmung zu erkennen, in der die Konstruktion eines neuen und jungen österreichischen Kinos festzustecken scheint. Angesichts emsiger Vermittlungsbemühungen wäre es notwendig zu fragen, was sich womöglich am Blick auf die Gegenwart und die Zukunft ändert, wenn wir einen Film durch das Kino oder die Hochschule erleben. Brauchen wir mehr Unmittelbarkeit? Ayubs Sonne scheint danach zumindest zu suchen.