MALMOE

Gedenkstättenpädagogik heute

Ein Rundgang in der Gedenkstätte Mauthausen

Am Anfang ist da eigentlich immer Nervosität. Wenn ich eine Schulklasse vor einem Rundgang in der Gedenkstätte Mauthausen beim Besucher:innenzentrum begrüße, ist die Stimmung in der Gruppe meist angespannt oder aufgekratzt. Ich sehe Jugendliche, die sich nur einander zuwenden und das Rundherum auszublenden versuchen. Ich sehe auch Jugendliche, die sofort mit mir in die Interaktion treten und eine aufgeregte Neugierde ausstrahlen. Und ich sehe Jugendliche, die, selbst wenn sie angesprochen werden, betreten auf den Boden starren und schweigen.

Die Gedenkstätte als Ort der Erinnerung

Ich beginne meinen Rundgang mit ein oder zwei informellen Fragen an die Schüler:innen, um das Eis zu brechen und die Nervosität abzubauen. „Wie war eure Anreise?“ Und: „Habt ihr euch diesen Ort so vorgestellt?“ Ziel der Fragen ist es, Vertrauen zur Gruppe aufzubauen und von Anfang an klarzustellen, dass Interaktion erwünscht ist. Der Dialog bildet die Basis des pädagogischen Konzepts der Gedenkstätte Mauthausen. Es sollen Bilder aufgegriffen werden, die die Besucher:innen bereits mitbringen, und ihre Wahrnehmungen vom Ort thematisiert werden, so das Konzept. Die Beteiligung der Schüler:innen soll gefördert und das Individuum in den Mittelpunkt gestellt werden. Ziel ist es, eine eigenständige Auseinandersetzung mit der Geschichte und den eigenen Geschichtsbildern anzuregen. Beobachtungen, Interessen und Fragen der Schüler:innen sollen Raum bekommen.

Auf die Frage, wie der Ort auf sie wirkt, höre ich oft, dass die Mauern des ehemaligen Konzentrationslagers sie an eine mittelalterliche Festung erinnern würden. Ich sage ihnen, dass die Häftlinge ihr Gefängnis, das Lager, selbst mit Steinen aus dem naheliegenden Steinbruch bauen mussten. Ich erkläre, dass das KZ an dieser Stelle gebaut wurde, um die Häftlinge als Zwangsarbeiter:innen im Steinbruch einzusetzen. Ich spreche dann darüber, was ein Arbeits- und was ein Vernichtungslager im Nationalsozialismus war und welche Bevölkerungsgruppen ins KZ deportiert und ermordet wurden.

Andere sind überrascht, dass das Konzentrationslager auf einem Hügel erbaut wurde und von den umliegenden Gegenden eingesehen werden konnte. Diese Beobachtung eröffnet ein zentrales Thema des Rundgangs, das Umfeld, also die Bewohner:innen der umliegenden Orte und was sie vom Konzentrationslager wussten. Viele Jugendliche kommen mit der Vorstellung an die Gedenkstätte, dass die Menschen von Konzentrationslagern nichts gewusst hätten, und sind überrascht, wenn ich ihnen erzähle, dass diese sogar im Telefonbuch zu finden waren.

Die Wahrnehmungen der Schüler:innen führen mich in beiden Fällen zum Inhalt. Meine Aufgabe ist es, die Geschichte des Nationalsozialismus und des KZ Mauthausen zu vermitteln. Thematisiert werden im Rundgang die Erinnerungen an die Ermordeten und die Zeugnisse der Überlebenden, die Ideologie und Verbrechen der Täter:innen sowie das Wissen und die Handlungsspielräume des Umfelds. Materialien wie Fotos, biografische Zeugnisse und Texte ermöglichen Diskussionen und eine aktive Beteiligung.

Zugänge der Gedenkstättenpädagogik

Die Interaktion stand und steht nicht immer im Zentrum der Gedenkstättenpädagogik. Lange Zeit war es üblich, Schüler:innen an die Gedenkstätte zu bringen, um die breite Öffentlichkeit mit den Verbrechen des NS-Regimes und den Grausamkeiten und Morden, die in den Konzentrationslagern stattgefunden hatten, zu konfrontieren. Der Gedenkstättenbesuch sollte der Verharmlosung des Nationalsozialismus entgegenwirken und die Schüler:innen von nationalsozialistischer Ideologie abschrecken. Die „Schock-Pädagogik“ hatte allerdings auch zur Folge, dass Schüler:innen Angst vor einer Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus aufbauten oder im schlimmsten Fall eine voyeuristische Lust am „Gruselkabinett Konzentrationslager“ entwickelten. Eine historisch-gesellschaftliche Einordnung des NS und der Aufbau von Geschichtsbewusstsein fanden wenig Raum.

Ein anderer Ansatz der Gedenkstättenpädagogik war und ist, ein Nacherleben der Schüler:innen in die Situation der Häftlinge herzustellen und so Mitgefühl auszulösen. So wurden die Schüler:innen beispielsweise die sogenannte Todesstiege rauf und runter geschickt, um zu erfahren, wie sich das für die Häftlinge anfühlte. Bei meinen Rundgängen treffe ich immer wieder auf Lehrer:innen, die sich enttäuscht zeigen, weil die Stiege vorübergehend gesperrt ist. Der Versuch, die Lebens- und Haftbedingungen der Häftlinge, die unterernährt, unter Schlägen und Todesangst tagein, tagaus schwere Steinblöcke die Stiegen hochschleppen mussten, nachzuempfinden, ist eine Verharmlosung.

Dass ein Gedenkstättenbesuch bei Schüler:innen Schock oder Trauer auslösen kann, ist angesichts des Themas nicht verwunderlich. Der Umgang der Vermittler:innen hat sich diesbezüglich allerdings verändert. In der Vermittlungsarbeit gibt es heute einen bewussten Umgang damit, wie Inhalte bei Jugendlichen, die meist 13 oder 14 Jahre alt sind, ankommen und wie Raum für eine Auseinandersetzung geschaffen werden kann.

Die interaktive Einbindung anstelle des betretenen Schweigens bzw. der emotionalen Überforderung soll eine nachhaltige Beschäftigung mit der Geschichte des Nationalsozialismus und der Konzentrationslager möglich machen. Die historisch-politische Bildung, die Selbstreflexion und die Auseinandersetzung mit den eigenen Geschichtsbildern sollen im Zentrum stehen.

Von der Zeitgeschichte zur Geschichte

Für viele Jugendliche, so auch für mein 14-jähriges Ich, waren Gespräche mit Zeitzeug:innen prägend für die Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus. Diese Gespräche wird es leider nicht mehr lange geben. Jedes Jahr sterben mehr Zeitzeug:innen und die Zeitgeschichte wird in wenigen Jahren Geschichte geworden sein. Seit Jahren gibt es Auseinandersetzungen darüber, wie die biografische Erzählung der Zeitzeug:innen überdauern können. Verschiedene Gedenkstätten und Institute haben Archive mit Bild- und Tonaufnahmen von Zeitzeug:innen angelegt.

Personen, die schon lange im Feld der Gedenkstättenpädagogik arbeiten, erzählen mir, dass sich der Umgang von Jugendlichen mit der Zeit des Nationalsozialismus in den letzten Jahrzehnten wesentlich verändert hat. In den 1990er-Jahren zeigten Jugendliche meist eine starke Reaktion auf eine Konfrontation mit den Verbrechen des NS. Die Großeltern-Generation der damaligen Schüler:innen lebte als junge Erwachsene im Nationalsozialismus, in vielen Familien wurde darüber geschwiegen oder der Nationalsozialismus verharmlost. Manche Jugendliche waren neugierig zu erfahren, welche Verbrechen im Nationalsozialismus ausgeübt wurden, sie wollten ihre Familiengeschichte aufarbeiten. Andere reagierten abwehrend, da die Verharmlosung des NS in ihrer Familie tief verwurzelt war.

Wenn ich heute an der Gedenkstätte die Frage in den Raum werfe, welchen familiären Hintergrund sie bezüglich NS haben, wissen viele nichts zu antworten. Ihre Großeltern sind meist nach 1945 geboren oder an Orten, die nicht Teil des Dritten Reichs bzw. der eroberten Gebiete waren. Die Konfrontation mit der eigenen Familiengeschichte tritt mehr und mehr in den Hintergrund. Umso wichtiger ist es, die pädagogische Vermittlung als antifaschistische und politische Bildung zu verstehen.

Prinzipiell stellt sich die Frage, ob man die Geschichtsauffassung der Jugendlichen in einem zweistündigen Rundgang nachhaltig prägen kann. Wenn, dann nur, indem man innere Auseinandersetzung anstößt, die im Alltag fortgeführt wird. Die Erwartungen der Lehrer:innen an einen Gedenkstättenbesuch sind hoch, das spüren die Jugendlichen. Neben der Konfrontation mit dem Ort des Mordens ist vielleicht auch das ein Grund für die Nervosität der Schüler:innen.