Zweite Episode der neuen Reihe: Vienopolis. In den Fängen der Familie
Was bisher geschah: Die beiden Superheld:innen Strobosneaker, mit ihren unübertrefflichen Beleuchtungs- und Blendkünsten, und Souschef, ein Feinspitz mit groben Küchenutensilien, befinden sich beim Eingang zur Ruine. Sie stehen dort wie fixiert und lauschen den Klängen des Abends. Niemand weiß: Folgen sie einer Spur, ihrem Herzen oder ist es purer Zufall? Es ist auch einerlei. Kaum eine Person in Vienopolis kann es unterscheiden. Denn hier ist vieles anders. Hier bewegen sich Menschen in den Abgründen so unbeschwert wie anderswo auf einem Hochplateau. Hier wird die Niedertracht zu einer Festtagskleidung erklärt und zu jedem erdenklichen Anlass voller Stolz präsentiert. Mit einem Satz: Hier regiert die Familie. Es ist eine weit verzweigte Familie, sie hat ihre Schattierungen, Schraffierungen und Schlupflöcher. Sie umgarnt selbst jene Menschen, die glauben, nicht dazuzugehören, und dies auch felsenfest beteuern.
Wie Woodchuck-Man. Einst ein gewöhnlicher Mann mit Idealen und gutem Sitzfleisch, einer, der rein zufällig stets als Erster am Buffet steht und später als Letzter von der Bar wackelt. Ein Mann, der Schulterklopfer einstecken und jeden Umfaller gelassen hinnehmen kann. Einer, dem es im Leben genügte, unverständliche Schachtelsätze zu bauen und zu arrangieren, bis er eines Tages die Macht seines Wolljankers erkannte: Dieser ist Heimat grässlicher, fiepsender Murmeltiere, die alles annagen, was Bestand zu haben vorgibt. Dieser Woodchuck-Man befindet sich ebenfalls in der Ruine, auf der Suche nach den Resten seiner Superregierungstruppe, die sich in den letzten Tagen und Wochen wie in Luft auflöste. Einst angetreten, um das Land, um Vienopolis zu regieren und die Welt zu retten, schien plötzlich alles wie verzaubert. Wörter und Sätze, die längst ungesagt waren und gelöscht wurden, wurden den Superregenten wieder auf das Display gestellt. Alles, was weg war, war wieder da, und plötzlich verschwanden sie. Einer nach dem anderen verschwand. Nun war er allein. Er wusste aber, dass sich hier in der Ruine der Weg ins Reich der schwarzen Fäulnis befand.
An diesem entzückenden und erfrischenden Ort werde ich sie finden, denkt sich Woodchuck-Man, als er sich langsam vortastet. „Fäulnis ist eine natürliche Form der Gärung. Und Gärung ist eine biologische Form der Energiegewinnung. Ich finde das gut. Sogar innovativ!“ So redet er sich Mut zu. „Und wer etwas gegen den Gestank hat, dem sag ich: Immer noch besser als Gastank. Denn davon müssen wir weg.“ Er zieht den Wolljanker fest zusammen. Es fröstelt ihn. Irgendwoher kommt kalte Luft. Sie kommt von der Seite. Vorsichtig schiebt er seine Hand nach vorn, immer weiter, doch da ist keine Mauer, sondern ein Loch oder ein Türbogen. Langsam schreitet er hindurch und die Stufen hinab.
Inzwischen sind die beiden Superheld:innen ebenfalls im Inneren der Ruine. Strobosneaker schaltet ihre Handscheinwerfer ein und leuchtet die Umgebung aus. Die Natur hat sich schon lange das verlorene Terrain zurückerobert: Die mächtigen Stützpfeiler sind bemoost und auf den Kapitellen machen sich Champignons neben Kräuterseitlingen breit. Der grelle Lichtkegel streift mächtige Spinnennetze, in denen unstet Käfer und sonstige Insekten zappeln. Souschef steht dicht hinter ihr, der Schneebesen baumelt griffbereit an seiner Kochschürze.
„Soll ich vielleicht den Weg mit dem Bunsenbrenner …?“, fragt er nun zögerlich und tastet in seinem Gastrobag nach dem liebgewonnenen Utensil.
„Keine gute Idee, unsere Stärke liegt in dem Überraschungsmoment. Woodchuck-Man soll sich in Sicherheit wähnen und uns direkt ins Herz der Familie führen. Zu unserem Glück ahnt er nichts!“
„Träumt wahrscheinlich gerade von dem nächsten Solarpark“, witzelt Souschef und wirft eine Brise Kreuzkümmel in die Höhe. Und tatsächlich, Strobosneakers Scheinwerfer zeigen es überdeutlich, ein steter Windzug bewegt die kleinen Partikel.
„Haben mich meine feinen Sinne also doch nicht getäuscht. Hier zieht’s gewaltig!“, sagt Souschef, nickt zufrieden, tastet die modrige Wand ab und hält inne, als er ins Leere greift. „Hier lang“, deutet er Strobosneaker, die vorsorglich ihre Handlichtquelle auf Abblendlicht schaltet. Behutsam steigen sie die nicht enden wollende Wendeltreppe hinunter und mit jedem Schritt steigt bei Souschef das Gefühl des Unbehagens. „Und wenn das jetzt alles eine Falle ist? Hinter dem vertrauenswürdigen Auftreten und dem gutmütigen Gesicht tun sich vielleicht doch Abgründe auf?“
„Wir tun gut daran, Woodchuck-Man nicht zu unterschätzen. Aber er weiß doch selber, wie wenig es die Familie mag, wenn Staub aufgewirbelt wird. Schon gar nicht von den Neuzugängen“, grinst Strobosneaker und signalisiert dem sichtlich erleichterten Souschef, dass die Treppe endlich ein Ende gefunden hat. Sie leuchtet den unterirdischen Raum aus und deutet mit dem Spotlicht auf ein großes Portal, vor dem ein flacher Altar steht. Die beiden Held:innen treten näher und entdecken eine grünspanige Konsole mit drei großen, bebilderten Schalthebeln.
„Hm, hier ist ein Malteser-, ein Andreas- und ein klassisches Kreuz. Manche Sachen vergisst man nie“, verblüfft nun Souschef seine kongeniale Gefährtin, die durch die Zähne pfeift.
„Potzblitz. So wie ich die Familie kenne, gibt’s keine zweite Chance. Jeder Fehler könnte fatale Konsequenzen haben“, zischt Strobosneaker und taucht die Darstellungen in ihr Schwarzlicht. „Das Andreaskreuz. Da seh’ ich was. Souschef, wir brauchen den Lebensmittelpinsel.“ Emsig befreit Souschef den oberen Teil des Bildes vom Staub und legt zwei kleine Pferdeköpfe am Ende der Balken frei. „Das Giebelkreuz. Das muss es sein!“, ruft Strobosneaker euphorisch und legt schon beide Hände an den entsprechenden Hebel. Sie deaktiviert alle Lichter und atmet theatralisch tief ein, bevor sie den Mechanismus betätigt. Nach einem satten Klicken schwingen die schweren Doppeltüren fast geräuschlos auf.
Beide starren in das dunkle Nichts und setzen behutsam die ersten Schritte in die Finsternis, deren Stille einen Vorgeschmack auf ihre Mächtigkeit gibt. Souschef tastet nach Strobosneakers Schulter, erwischt zuerst die Kniekehle, dann das Ohrläppchen und letztendlich den Ellbogen. Dennoch flüstert er: „Da vorne, das ist doch ein Licht!“ Tatsächlich, in schier unvorstellbarer Entfernung ist ein kleines Flackern zu beobachten.
„Das Momentum ist auf unserer Seite, ich versuch’s mit der Leuchtturm-Halogenlampe“, wispert Strobosneaker und visiert das tänzelnde Leuchtpünktchen an. Schungschungschung Im beißenden Lichtkegel versuchen Woodchuck-Man und blinzelnde Murmeltiere ihre Augen zu bedecken. Halb geblendet robben sie in eine kleine Aufzugkabine, die sich am Ende des langgestreckten Ganges befindet. „Tempo, er darf uns nicht entkommen“, presst Strobosneaker hervor und sprintet los, Souschef folgt ihr auf dem Fuß und hat schon den Fleischklopfer gezückt, um die Aufzugtür zu blockieren. Brooaar Brooaar Eine ungeheuerliche Maschine wühlt sich mit ohrenbetäubendem Lärm durch das berstende Gestein und blockiert den Gang. Ungläubig sieht Strobosneaker, wie hinter einem riesigen Diamantbohrer ein Fenster langsam runtergekurbelt wird.
„Wegen Sanierungsarbeiten derzeit kein Durchgang“, feixt der Lenker des Ungetüms und lockert lässig den Krawattenknoten. „Mischmasch-Mike! Jetzt fügt sich alles zusammen“, grummelt Souschef und wühlt in seiner Utensilientasche.
„Das würde ich lassen. Schneller, als ihr blinzeln könnt, füllt mein Neuzugang hier alles mit Spritzbeton auf, natürlich dem schnellhärtenden“, feixt Mischmasch-Mike und deutet auf imposante Düsen auf dem Fahrzeugdach. Souschef erstarrt und muss resigniert feststellen, dass sich der Lift bereits in Bewegung gesetzt hat. Nein, deswegen habe ich nicht die seelenlose Welt der Gastronomie hinter mir gelassen, denkt er und stürmt im nächsten Moment auf das Gefährt zu. Die Garben des Spritzbetons verfehlen ihn nur ganz knapp, doch da hat er schon den gigantischen Mischer erklommen und schüttet Unmengen Schnellgelatine in den rotierenden Schlund. „Wir müssen Zeit gewinnen“, keucht Souschef durch die dichte Staubwolke über dem Einfüllstutzen. Strobosneaker kombiniert Ausfallschritte mit einigen Moshpitkombinationen, während sie sich in verschiedene Lichteffekte gehüllt der Lenkerkabine nähert.
„Vorwärts immer, rückwärts nimmer“, lacht nun Mischmasch-Mike kehlig und schaltet den Düsendruck auf das Maximum. Kaskaden an breiigem Beton stürzen auf Strobosneaker zu, die sich gerade noch auf einen Felsvorsprung retten kann. Schlomp Endlich wirkt die Schnellgelatine und ausgehärtete Betonglocken baumeln von den Düsen. Mischmasch-Mike schüttelt kurz die geballte Faust, entkoppelt die Mischmaschine und wühlt sich mit der verbliebenen Bohreinheit in den Felsen. „Das ist nicht das Ende!“, brüllt Strobosneaker in die klaffende Öffnung und kann über das eigene Echo nur staunen.