Silvia Boadella widmet sich in einem lesens- und beachtenswerten Buch dem Leben der Künstlerin Sophie Taeuber-Arp, die ihre Großtante war
Sophie Taeuber-Arp ist eine der bedeutendsten Persönlichkeiten der Dada-Bewegung und wohl eine der wichtigsten Künstler*innen des 20. Jahrhunderts. Sie arbeitete sowohl als Architektin, Tänzerin, Malerin, Bildhauerin als auch Designerin. Taeuber-Arp entfaltete ihre Kunst in der Zeit zweier Weltkriege. Dennoch zeugen ihre Arbeiten von einer Freude und poetischen Kraft, die durchaus als ein Gegenmodel zur damaligen politischen Lage verstanden werden können. Im Alter von nur 53 Jahren starb Sophie Taeuber-Arp durch eine Kohlenmonoxid-Vergiftung. Das Gas war aufgrund einer Fehlfunktion des Ofens im Haus des Künstlers Max Bill ausgetreten. Die Philosophin, Autorin und Psychotherapeutin Silvia Boadella widmete ihrer Großtante ein Buch, in dem sie auch ihre eigenen Sichtweisen und Therapiemodelle reflektiert.
Urs Heinz Aerni: Auf dem leider nicht mehr im Umlauf befindlichen 50-Franken-Geldschein war Sophie Taeuber-Arp abgebildet. Haben Sie als deren Großnichte noch ein paar von diesen Scheinen aufbewahrt?
Silvia Boadella: Ja, ich habe einige davon zurückgelegt und werde sie später verschenken. Was mir darauf besonders gefällt, ist ihr aufmerksamer Blick, mit dem sie uns anschaut.
Durch Retrospektiven im Kunstmuseum Basel, in der Tate Modern in London und im Museum of Modern Art in New York wird die Künstlerin, die auch im Zentrum der Zürcher Dada-Bewegung stand, wieder ins mediale Bewusstsein gerückt. Sie widmen ihr nun mit diesem Buch in Ihrer eigenen literarischen Sprache eine Hommage. Was hat Sie dazu bewogen?
Ich bin aufgewachsen mit Sophie Taeuber-Arps Kunst und mit Menschen, die ihr sehr nahestanden. In Erzählungen über sie und in ihrem Werk habe ich immer eine enorme Lebensenergie dieser Frau und Künstlerin wahrgenommen. Dieser Kraft wollte ich in einem eigenen Werk nachspüren. Auch hatte ich einen entscheidenden Traum über sie. Darin hörte ich den Satz: „Sophie hat einen Albtraum in einen Traum verwandelt.“ Ich wollte in diesem Buch ergründen, was es damit auf sich hat und wie Sophie dies geschafft hat. Ich habe das Buch also auch aus einem eigenen Interesse heraus geschrieben, um von Sophie zu lernen.
Sie wurden fünf Jahre nach dem Tod Ihrer Großtante Sophie Taeuber-Arp, 1943, geboren. Wie präsent war sie in Ihrer Familie?
Die Erinnerung an Sophie war sehr wach und es wurde vieles über sie erzählt, gerade weil sie eine so lebendige und vielseitige Frau war und ein außergewöhnliches Leben führte. Sophie war eine Ausnahme-Künstlerin unter den Künstler*innen ihrer Zeit. Sie war schon zu ihren Lebzeiten sehr bekannt, renommiert und international angesehen. So wurde sie zum Beispiel bereits damals vom Museum of Modern Art in New York ausgestellt. In den 13 Jahren, in denen sie nicht mehr unterrichten musste – von 1929 bis 1943 –, nahm sie an vierzig internationalen Ausstellungen teil, auch das zeigt ihre enorme Lebenskraft.
In Ihrem Buch Ein Leben für die Kunst zeigen Sie nicht nur ausgesuchte Werke und Illustrationen von Taeuber-Arp, Sie verknüpfen diese mit Ihrer persönlichen Art der Poesie. Eigentlich im Sinne der porträtierten Künstlerin, da sie ebenso interdisziplinär gestaltete. Oder anders gefragt: Warum keine klassische Biografie?
Ich habe in meinem Buch eine neue Form des Porträtierens entwickelt. Biografische Details werden mit den Prozessen verflochten, die Sophie Taeuber-Arps vielseitiges Schaffen antrieben. Das Buch fühlt sich wie ein Roman an und hat auch dessen Form, basiert aber eher auf Fakten als auf Fiktion. Und doch wagt es zugleich, uns einen Einblick in das Denken und Fühlen der Künstlerin zu geben. Es soll gleichzeitig persönlich und informativ sein. Ich habe versucht, es mit genauso viel Sorgfalt und Aufmerksamkeit fürs Detail zu schaffen wie Sophie Taeuber-Arp ihre eigenen Werke. So pflege ich das Vermächtnis der Künstlerin und beschreibe es auf eine poetische und innige Weise, die ebenso voller Sehnsucht ist wie die Werke der Künstlerin.
Die Welt, in der Sophie Taeuber-Arp lebte, geriet aus den Fugen. Flucht, Angst und Unsicherheiten hinderten sie nicht, künstlerisch aktiv zu bleiben. War ihre Kunst vielleicht auch ein Weg, das alles ertragen zu können?
Ja, es war ihr Weg, dies alles auszuhalten. Trotz der Bedrohung durch zwei Weltkriege widmete sie sich leidenschaftlich ihrer Kunst. Sie fand und bewahrte durch ihre Arbeit nicht nur unter äußerst schwierigen Umständen ihr inneres Selbst und ihre Freude, sondern schöpfte daraus auch eine große Kraft, um zu überleben, den Herausforderungen standzuhalten und sich selbst treu zu bleiben.
Bewirkte Ihre erzählerische Hinwendung an Taeuber-Arp eine Veränderung in Ihrem Verhältnis zu ihr?
Es vertiefte meine Beziehung zu ihr. Beim Schreiben über sie fühlte es sich so an, als würden wir uns in einem gemeinsamen Resonanzraum befinden. Wenn ich also die Entstehung eines Werkes von ihr beschrieb, versuchte ich in den Raum einzutauchen, aus dem heraus sie ihre Kunst erschuf. Was mir bei der Arbeit am Buch besonders bewusst wurde, ist ihre holistische Weltsicht. Sophie hat ganzheitlich nach Schönheit gesucht. Mit Schönheit meine ich hier nicht etwas rein Visuelles, auch nichts Fertiges, sondern ein Handeln. Schönheit ist für Sophie ein Vollzug, ein Lebensbezug. Zudem findet in ihrer Arbeitsweise ein Ausscheidungsprozess von Überflüssigem und ein Einkreisungsprozess auf das Wesentliche statt – wie es in einem japanischen Lehrspruch heißt: „Beschränke dich auf das Wesentliche, ohne die Poesie zu entfernen.“ Diese Einstellung hat mich sowohl für meine Arbeit als Schriftstellerin als auch als Psychotherapeutin beeinflusst.
Sie selber stammen aus Basel und leben als Psychotherapeutin und Schriftstellerin in der Ostschweiz. Zudem studierten Sie Philosophie, Literatur und Kunstgeschichte. In welchen Bereichen finden Sie denn die Energie und Inspiration, um mit den Unwägbarkeiten der Zeit umgehen zu können?
Alle diese Bereiche inspirieren mich und vitalisieren meine Kreativität. Inspiration und Kreativität sind mein Schutz und geben mir Stabilität, denn sie verbinden mich mit meinen inneren Ressourcen. Ein Leitsatz auch von unserer psychotherapeutischen Arbeit ist: Anstelle von burn out: light up! Anstelle von Ausbrennen: aufleuchten lassen.
Sie entwickelten zusammen mit Ihrem Ehemann David Boadella die psychotherapeutische Methode „Biosynthese“. In den großen Krisenjahren Anfang des 20. Jahrhunderts reagierten viele Kunstschaffende auf die Industrialisierung und den Nationalismus mit der Suche nach neuen Formen der Kunst und des Lebens, wenn wir an den Dadaismus oder an den Monte Verità denken. Wie sehen Sie heute die Kraft der Kunst als Kontrastmittel zur jetzigen Gesellschaft?
Die Kunst hat die Fähigkeit, eine Gegenwelt zu bestehenden Verhältnissen aufzubauen, sei dies zu allgemeinen Gesellschaftsformen oder zu persönlichen Lebensweisen. Insofern wohnt ihr eine subversive Kraft inne, die das Bewusstsein für Missverhältnisse schärft und dadurch Veränderung anregen kann – heute auch gerade in Bezug auf die zunehmende „Instrumentalisierung“ von Mensch und Welt. Ich habe dies in meinem Buch Erinnerung als Veränderung ausgeführt.
Wenn Sie die Chance hätten, Ihrer Großtante Sophie Taeuber-Arp eine Frage stellen zu können, wie würde sie lauten?
Sophie, du bist durch deinen Unfalltod mitten aus deinem Leben und deinem künstlerischen Schaffen herausgerissen worden. Würdest du es trotzdem als erfüllt anschauen? Wie würde ein Neubeginn in der jetzigen Zeit für dich aussehen, als Frau und als Künstlerin?
Silvia Boadella (2021): Sophie Taeuber-Arp – A Life through Art / Ein Leben für die Kunst. Zweisprachige Ausgabe (Englisch – Deutsch), 224 Seiten mit 80 Abbildungen, Skira Verlag, Mailand