Für die MALMOE-Literaturseite schreiben Katharina Pressl und Marie Luise Lehner über das Wohnen, manchmal hochpolitisch oder eindringlich, manchmal humorvoll oder seicht.
Folge 6: Über rechtlichen Konsequenzen eines Räumungsbescheids und über die Gesetze, die das das Sprechen, Pissen, Fotografieren und Angreifen von Dingen in einem Museum reglementieren.
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Mein Vater will mich vor dem Bezirksgericht Josefstadt treffen
Mein Vater will mich vor dem Bezirksgericht Josefstadt treffen. Als ich pünktlich ankomme, ist er nicht da. Er schreibt mir, er sei schon drinnen. Ich gehe durch eine verglaste Schleuse. Jemand öffnet meine Geldbörse und sieht sich den Inhalt meiner Tasche an. Dann stehe ich in einem Gang. Auf den Treppen vor mir wird ein schwarzer Mann in Handschellen von zwei weißen Polizisten hinuntergeführt. Sie bleiben neben mir vor einer Türöffnung stehen. Ich fühle mich unwohl und weiß nicht, wie ich mich verhalten soll. Ich rufe meinen Vater an, der nach kurzem Läuten durch die Türöffnung hinter dem Mann in Handschellen herausstürmt. Er sei schon im Informationsgespräch gewesen, sagt er. Sie hätten schon angefangen zu sprechen. Ich sehe auf meine Uhr. Das Gespräch soll erst in fünf Minuten losgehen.
Ich setze mich neben meinen Vater und vor zwei Rechtspraktikanten. Ich habe einen Zettel mit Fragen, die ich mir vorher zu Hause notiert habe. Mein Vater erzählt. Er redet und redet. Die Rechtspraktikanten nicken. Er erzählt unsere Lebensgeschichte. Damit sie auch alles verstehen, beginnt er mit der Geburt. Er erzählt davon, wie er mich aufgezogen hat, was wir in unserer Freizeit tun, womit wir zu unterschiedlichen Zeiten unser Geld verdient haben. Er spricht davon, dass er seine Vaterschaft immer ernst genommen und wie er die Alimentationszahlungen für mich geleistet hat. Er erklärt, wie der Umfang der Alimente für meine Schwester vor Gericht geklärt worden ist. Er erzählt von der Mutter meiner Schwester. Wie sie gestritten haben. Wie es war, mit ihr in der Wohnung zu wohnen. Er erzählt, wie die Wohnung aufgebaut ist, was die Eigenheiten der Therme sind und welche Geräusche die Tauben nachts vor dem Fenster machen. Er erzählt, wie günstig und wie baufällig die Wohnung war und wie wir nach und nach alles repariert haben. Er erzählt, wie die Betriebskosten für die Wohnung jedes Jahr steigen würden und dass die Menschen von unserer Hausverwaltung Verbrecher seien. Die Rechtspraktikanten nicken. Ich versuche, die wenigen Pausen in seiner Erzählung zu nutzen, um meine Fragen unterzubringen. Immer wieder lege ich ihm die Hand auf die Schulter, um zu signalisieren, dass ich auch da bin, dass es klug wäre, zu einem Punkt zu kommen, damit auch die Rechtspraktikanten oder ich zu Wort kommen. Als wir hinausgehen, haben wir statt einer halben Stunde eine ganze Stunde Beratungsgespräch gehabt. Die meiste Zeit hat mein Vater gesprochen. Die Rechtspraktikanten haben die meiste Zeit genickt, und ich habe die meiste Zeit meine Hand immer wieder und immer dringlicher auf die Schulter meines Vaters gelegt. Ich habe in den kurzen Redepausen meines Vaters durch Zwischenfragen erfahren, dass ich, weil ich vorher zusammen mit meinem Vater in der Wohnung gewohnt habe, bessere Chancen hätte, bleiben zu dürfen. Dass es schlecht ist, dass ich nicht bei meinem Vater gemeldet war. Dass es uns sehr helfen würde, wenn Clara vor Gericht aussagen könnte, dass sie von meinem Einzug gewusst habe. Aus dem Grund, dass Clara und auch die ehemalige Hausverwaltung von unserem Einzug gewusst haben, würden sie empfehlen, vor Gericht zu kämpfen.
„Wenn man nur wüsste, was er von uns will“, sagt mein Vater nach dem Gespräch. Mein Vater zählt verschiedene Theorien auf, warum mich der neue Hausbesitzer vielleicht loswerden will. Ich sage, er will die Wohnung sanieren und die Miete erhöhen. Das glaubt mein Vater nicht.
Theorien:
Der Hausbesitzer traut uns nicht, vielleicht denkt er, mein Vater sei ein Halunke, aber werde schon zeigen, dass er ein ehrlicher Mann ist, der das Beste für seine Tochter will.
Der Hausbesitzer weiß nicht, dass mein Vater mein Vater ist, und hat gedacht, wir würden illegal mieten, wegen unserer unterschiedlichen Nachnamen, er, mein Vater, hieße doch Peter Grund und ich Marlen Wenzel.
Der Hausbesitzer ist von uns am Gang nicht freundlich gegrüßt worden.
Der Hausbesitzer hat sich geirrt, er wollte eigentlich nicht uns, sondern einer anderen Partei kündigen.
Der Hausbesitzer hat von Heidi Giraffe, unserer neugierigen Nachbarin, Lügengeschichten über uns gehört, die nicht wahr sind.
Der Hausbesitzer möchte keine jungen Leute in seinem Haus haben, weil er glaubt, wir könnten die Miete nicht regelmäßig überweisen.
Mein Vater sieht mich an. „Aber ihr habt doch immer regelmäßig auf den Cent genau überwiesen.“ Mein Kiefer ist hart und verspannt. Ich habe sehr lange die Zähne zusammengebissen, bemerke ich. Ich habe sehr lange die Luft angehalten. Ich habe sehr wenig geschlafen in letzter Zeit. Ich bin sehr müde.
Marie Luise Lehner
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Nicht im Weg stehen
Vorm Weltmuseum kriecht der Wind unter den Mantel und unters Augenlid, so, dass man später Kopfweh haben wird. In der Vorhalle bei der Kassa schauen alle. Ich warte auf Ali, der mich durchwinken wird. Die unters Augenlid gestiegene Luft hat dort Druck aufgebaut und sich über einen Irrweg ungut auf meine Blase ausgewirkt, ich muss aufs Klo. Entschlossen geh ich auf die Türen zu. Dahinter werde ich sofort aufgehalten. Ich erkläre den zweien von der Security, ich müsse nur aufs Klo, dass ich zwar kein Ticket habe, aber für ein Projekt hier und mit der Kulturvermittlung verabredet sei. Kulturvermittlung sage ich, als spräche ich ein Zauberwort. Als es nicht wirkt, sage ich Muhammet Ali Baş und mache eine Zickzackbewegung mit der Hand; kann sein, dass kleine Funken aus meinem Zeigefinger sprühen. Ich müsse dort warten, bis wer kommt, damit ich mein Gratisticket bekäme und ich aufs Klo gehen könnte, hinter der Tür, die ich von hier sehen kann. Daneben ist das Café, dort kostet die Melange gleich viel wie eine Melange und ein Museumsticket. Kurz bevor mir die Entlastung meines Blasendrucks 15 Euro wert wird, kommt Ali, ich verschwinde in seinem Schatten, und wir gehen auf den Lift zu statt wieder zum Sicherheitsdienst und fahren direkt ins Dachgeschoss. Ali stapft ins Büro hinter den Statuen, die auf den Heldenplatz blicken. Mit immer kleiner werdenden Schritten tipple ich zum Klo, dort laufe ich im Stand, bis ich endlich den Hosenknopf aufbekommen habe. Es gibt ein Klo für alle, eines für Frauen und eines für Männer. Jemand schaltet das Licht von außen ab, während ich darinsitze. Da es ein Museum ist, will ich nicht herumschreien. Im Dunkeln pisse ich, wasche mir die Hände und suche Ali, der im Kulturvermittlungsbüro eigene Zauberwörter spricht, wer was noch folieren solle, etwas mit Buddha und ob ich einen Kaugummi wolle. Mit Maske will man immer einen Kaugummi. Als wir alles haben, gehen wir zurück hinunter in die Vorhalle, zur Kassa, kriegen für uns und die mittlerweile aufgetauchte Schulklasse kleine Sticker, jeden Montag-Workshop ist es ein anderer. Bunt beginnen die Regeln des Weltmuseums. Jetzt, da wir viele sind, schauen die von der Security gar nicht mehr so genau. Auch mein rechthaberisches Grinsen können sie nicht zuordnen, weil sie mich längst vergessen haben, mein Urin stellt anscheinend einfach keine Priorität für sie dar. Vor den rassistischen Casta-Gemälden Mexikos legt Ali eine kleine Historie der Diskriminierung hin. Einige aus der Schulklasse teilen ihre Erfahrungen, erzählen über Ungerechtigkeiten, die sie erlebt haben: im Job, in Bezug aufs Deutschsprechen und aufs Aussehen. Wir diskutieren, ob man kündigen und auf Deutsch scheißen soll oder nicht. Die Ratschläge, geteilten Erzählungen und Organisierungsaufrufe überschlagen sich. Die Stimmung bleibt wütend. Ein Fotograf vom Weltmuseum macht Fotos, vielleicht hat er im Weltmuseum sowas noch nicht so oft gesehen. In jedem Raum kommt wer von der Security zu ihm und sagt, er dürfe nicht mit Blitz fotografieren. Immer wieder muss der Weltmuseum-Fotograf denen von der Weltmuseum-Security seinen Weltmuseum-Fotografenausweis zeigen, der ihn zum Fotografieren mit Blitz berechtigt. In jedem Raum kommt wer von der Security und sagt, wo man sich nicht anlehnen dürfe. Ich habe meine Jacke in der Kulturvermittlung vergessen und rechne nicht damit, sie jemals wiederzubekommen. Die Schüler:innen benennen inzwischen alle Gegenstände im Benin- und im Afghanistan-Raum, die alle so nennen, als ob die Geschichten eines Lands darin Platz hätten. Sie erklären uns, welche Gefäße für Milch und Wasser, welche nur für Wasser gedacht sind und welche Ideen für Texte darüber sie hätten. Es sei lustig, sagt eine andere von der Kulturvermittlung, sie habe davor in einem Kunstmuseum gearbeitet, dort wurden alle immer dazu aufgefordert, Dinge anzufassen und sich draufzusetzen, aber nie habe sich wer getraut. Hier würden alle gerne immer alles angreifen und sich draufsetzen, aber man darf nicht. Wir sprechen über die Geschichte der Objekte – wie sie hierhergekommen sind, wie sie behandelt wurden, was geschieht, wenn man sie ausstellt, was das mit Kolonialismus zu tun hat. Wir teilen die Gruppe auf, ich hocke mich mit vier Schüler:innen vor eine Glasvitrine. Sie teilen ihre Texte mit mir: über Puppen, die jeden Tag dasselbe Kleid anhaben, aber auswählen, welchen Kopf sie tragen. Über das Stehen auf gleichem Boden und die Gemeinsamkeit von Geburt. Über Tonwaren im Iran, die man auch nicht angreifen durfte. Über die Welt als Büro, in dem allen ein Buddy zugewiesen wird, der ihnen erklärt, wie was wo läuft. Wir applaudieren jedes Textende. Für zwanzig Minuten ist die Welt in diesem Kreis in Ordnung; substanziell, poetisch, witzig und schließlich Applaus. Dann ist einerseits die Zeit abgelaufen, andererseits bin ich in letzter Zeit hoffnungslos. Und wir sitzen immerhin immer noch im Weltmuseum. Es ist dunkel und trieft vor Geschichte, semithematisiert. Womöglich tun hier hauptsächlich Schüler:innen dem Weltmuseum einen PR-Gefallen. Dann wiederum hat gerade vorher erst wer gesagt, Utopie sei wie das Paradies, nur echt und noch nicht jetzt. Eine Schülerin nennt mich Kathrin. Ich schimpfe mit ihr. Wir posen für ein Foto. Der Blitz wirft einen hellen Lichtstrahl auf meine Rolle. Selbstverständlich wird das Paradies nicht. Und nicht im Weg stehen, ist es auch nicht. Wahrscheinlich hab ich am Foto die Augen zu und es noch nicht einmal gemerkt. Die Schüler:innen holen ihre Jacken. Bis Montag, sagen wir. Ali klopft mir auf die Schulter. Wir trinken Melange zu Melangepreisen, während wir über die letzten und die nächsten Montage reden. Dann komme ich doch auch noch zu meiner Jacke. Der Wind hat nicht aufgehört, und wieder nehme ausgerechnet ich mir heraus, Kopfweh zu haben.
Katharina Pressl