Ein Gespräch über Pädagogik und ihren Beitrag zum Bruch mit der Herrschaft
Die Wirkungen von Hierarchien und imperialer wie epistemischer Gewalt bilden, schreibt Jan Niggemann in seinem neuen Buch, „den Wirkungsrahmen struktureller Ungleichheiten, in denen der diskrete Charme der Autorität soziale Differenzen in pädagogische Positionen übersetzt“. Das wollte MALMOE genauer wissen: Ingo Pohn-Lauggas hat mit dem Erziehungswissenschafter gesprochen.
Ingo Pohn-Lauggas: Der Begriff der Autorität, um den dein Buch kreist, bezieht sich auf Lehr- und Lernverhältnisse, aber auch auf imperiale Politik und globale Arbeitsteilung. Geht es da tatsächlich immer um Autorität, oder ist das eine Art Metapher?
Jan Niggemann: In der Tat ist Autorität beides: einmal eine personengebundene Beziehung, in der gelehrt und gelernt wird und in der es Hierarchien gibt, und auf der anderen Seite etwas, das sozusagen von der Kultur getragen wird, also Strukturen ungleicher Gruppen, ihre Positionen und Funktionen. Autorität ist eine gesellschaftstheoretische und analytische Kategorie, die zwischen dem Kleinsten und dem Größten versucht zu vermitteln. Es geht dabei immer um Herrschaft und Macht, und Autorität ist das, was die gewaltvolle, souveräne Herrschaft und die dynamischeren, auf der Beziehungsebene angesiedelten Machtverhältnisse miteinander verbindet.
Viele kritische Menschen bringen Autorität deshalb nur mit konservativer oder reaktionärer Politik in Verbindung; in pädagogischen Beziehungen lassen sich mit Autorität aber ganz unterschiedliche Erfahrungen machen: Es kann durchaus so etwas wie „gute“ Autorität(en) geben, also Menschen, die dir etwas zutrauen, deine Möglichkeiten sehen und dich unterstützen und fördern. Es gibt also auch einen diskreten, einen „dezentrierten“ Autoritätsbegriff, bei dem Autorität gar nicht so im Mittelpunkt steht, sondern im Alltäglichen dafür sorgt, dass bestimmte Dinge nicht falsch laufen.
Auch Max Horkheimer verstand Autorität als etwas ganz Alltägliches: In vielen bürgerlichen Familien stellt der Vater als „Oberhaupt“ so etwas wie einen letzten feudalen Rest dar – er ist der Souverän zu Hause. Das ist zunächst weder souverän noch glamourös, sondern die Unterordnung geschieht zuerst in der Familie, dann in der Schule, dann in den alltäglichen Bereichen der Kultur.
IPL: Vieles in deinem Buch berührt die Ideologietheorie: Der pädagogischen Autorität kommt auch eine Funktion bei der ideologischen Anrufung zu. Wird die Pädagogik damit zu einer Art Methodenlehre des Ideologischen, wenn Du z. B. schreibst, Autorität sei „die pädagogische Dimension von politisch-ethischer Führungspraxis in Gesellschaften mit hegemonialer Herrschaftsform“?
JN: Nein, meine Frage in Zusammenhang mit dem Ideologischen im Sinne von Weltauffassung war vielmehr, wie diese Inhalte und die Art und Weise, sie (lernend) anzunehmen, zu leben und zu bearbeiten, miteinander zusammenhängen. Ich schlage den Begriff der pädagogischen Autorität vor, um die Erziehungswissenschaft um die Perspektive der Ideologietheorie zu ergänzen, wie auch um die Hegemonietheorie von Gramsci oder den Artikulationsbegriff von Stuart Hall. Es lässt sich nicht sauber auseinanderhalten, was das Ideologische und was das Pädagogische an einer Lehr-/Lernbeziehung ist, denn auch die Pädagogik ist ein Theoriezusammenhang und eine Denkform, eine Art und Weise, auf Beziehungen und Strukturen zu schauen, sie zu deuten, ihnen Sinn zu verleihen. Ich könnte zwar sagen, dass das Vermitteln, Übersetzen, Lehren und Zeigen die Form des Pädagogischen ist und die Auffassung über den Menschen ihr Inhalt – aber es ist nicht sinnvoll, das getrennt voneinander zu behandeln. Pädagogik ist gerade dort, wo sie sich unpolitisch begreift, Teil von Ideologie; sie ist ja selbst eine Form, über das Sein in der Welt und damit über das Lehren und Lernen nachzudenken.
IPL: Ich finde, Du zeigst in dem Buch sehr schön, dass Gramscis Hegemonietheorie nicht nur ein Werkzeugkoffer ist, sondern dass dein Gegenstand selbst auf die Hegemonietheorie zurückwirkt, weil er in ihr ja schon enthalten ist.
JN: Es ist tatsächlich so, dass ich versucht habe, pädagogische Autorität sehr nah an Gramscis Begriffen als etwas zu definieren, das ideologische Anrufungen mit pädagogischen Praktiken verbindet. Was bedeutet das konkret? Ich muss erstmal wissen, was Ideologien sind und welche in mir selbst wirken und mein Denken und Handeln strukturieren: Von welchen ideologischen Strömungen bin ich ein Teil, aber inwiefern zeigt mein Alltagsverstand, wie das bei Gramsci heißt, auch eine Entwicklungsmöglichkeit? Wenn ich den Alltagsverstand ideologiekritisch betrachte, kann ich Möglichkeiten sehen, Anderes zu lernen.
Mein Ausgangspunkt war Gramscis Feststellung, dass jedes Verhältnis von Hegemonie ein pädagogisches Verhältnis ist, und ich argumentiere, dass man anhand der pädagogischen Beziehungen und ihrer Gestaltung eine ganz eigene Karte hegemonialer Beziehungen zeichnen kann, die anders aussieht, als wenn man nur die offiziellen Parteien und politischen Strömungen einbezieht: Wenn man genau hinschaut, wie viele Initiativen von unten es gibt, wie viele Denkweisen, die sich eigene Perspektiven auf Herrschaft aneignen, versteht man die enorme Bindekraft professioneller und alltäglicher Pädagogiken. Ich bin überzeugt davon, dass gerade die Menschen, die etwas lernen wollen und nicht von vornherein schon alles über sich und die Welt wissen, wichtig sind für eine „andere“ Gesellschaft – und nicht die, die alle Strategien schon von vornherein kennen und sich dann wundern, dass ihre guten Ideen von den Menschen nicht aufgenommen werden.
IPL: Wir führen dieses Interview am 90. Geburtstag des 2014 verstorbenen Stuart Hall. Ich habe den Eindruck, dass dir Hall – vielleicht sogar noch mehr als Gramsci – ganz konkrete Werkzeuge für deine Analysen im Hier und Heute an die Hand gibt.
JN: Ja, Stuart Hall und Cultural Studies sind wichtig für mich, weil sie nie eine elitäre Gruppe waren, sondern sich mit sozialen Bewegungen verbunden und bemüht haben, ihre Gesellschaftskritik mit offenen Lernformaten zu verbinden. Sie haben sehr bewusst Kultur, Popkultur und Alltag in den Blick genommen. Das Spektakel war das Alltägliche und das Populare, und was Cultural Studies von kulturpessimistischen Perspektiven unterschieden hat, war, dass es keinen abfälligen Blick „nach unten“ gab, keine Verachtung der Massen. Sie haben dabei stets in den Blick genommen, welche Konjunktur wir gerade vorfinden und wie die „Kapitalismen“ gerade aussehen – nämlich immer gleich und ungleich gleichzeitig. Hall stellt fest, dass der Kapitalismus zwar nicht überall gleich aussieht, dass sich aber doch stets eine Ähnlichkeit der Strukturen herstellt. Und dabei gibt es immer verschiedene Arten, Produkte zu dekodieren und Ideologien zu deuten: eine affirmative Lesart, die nicht weiß, was sie da an Haltungen übernimmt; eine, die insgesamt einverstanden ist, auch wenn sie bestimmte Aspekte zurückweist; und schließlich eine oppositionelle Lesart. Und genau bei der Feststellung, dass Herrschaft zwar aufwändig ist, aber nicht immer gelingt, spielt Pädagogik, spielen Alltag und Lernen eine Rolle: Es gibt immer Brüche, es gibt Leute, die dagegen sind, es gibt immer mehr zu lernen, als vermittelt wird.
Halls Begriff der Artikulation ist für mich tatsächlich ein Werkzeug, weil er deutlich macht, dass Dinge, die nicht unbedingt etwas miteinander zu tun haben müssen, politisch verbunden werden können, und das ist etwas sehr Praktisches: Eine bestimmte Denkweise braucht eine bestimmte Pädagogik, es braucht sozusagen zielgruppenspezifische Übersetzungen von Kritik in Alltagspraxis. Ich muss an unterschiedlichen Punkten ansetzen, weil Kritik mit den verschiedenen Positionen und Perspektiven verbunden ist. Das heißt eben, Kritik ist artikuliert – und Artikulationen sind situativ und kontextabhängig: Was gestern noch wie selbstverständlich zusammenhing, kann heute schon nichts mehr miteinander zu tun haben.
IPL: Das ist es vermutlich, was die für die Cultural Studies so bedeutsame Agency erst denkbar macht; geht es deinem Buch auch darum, welche Veränderungen der Verhältnisse möglich sind?
JN: Mein Buch stellt kein politisches Programm vor. Der Titel deutet aber darauf hin, dass es sehr wohl viele zu lernende Kleinigkeiten gibt, die etwas bewirken können, bzw. dass Lernen nicht geht, ohne sich selbst zu verändern. Es geht nämlich darum zu verstehen, wie beeinflusst du in deinem Gewordensein von der (eigenen) Geschichte bist: Als Teil welcher Gruppen mit welchen Erfahrungen bist du aufgewachsen (männlich/weiblich/nonbinär, Schwarz/Weiß, arm, abled usw.), und inwieweit sind deine Erfahrungen etwas, das sich nicht so leicht ändern lässt, nur weil du deine Einstellung dazu änderst? Du kannst eine andere Perspektive auf offensichtlich dauerhafte gesellschaftliche Strukturen einnehmen, indem du sagst: Wenn Dinge artikuliert sind, also nicht schicksalhaft zusammenhängen, dann lassen sich diese Verbindungen auch umbauen. Dass ich es kann, bedeutet, dass es ein Potenzial ist – und dass es nicht so leicht ist, bedeutet, dass ich es unter Bedingungen machen muss, die ich nicht in der Hand habe. Ich kann also meine eigene kritische Perspektive verändern, indem ich mich als geworden begreife, aber auch als anderswerdend erfinde. Es geht schlussendlich darum, sich genau zu suchen, wem man folgen will. „Folgen“ ist nicht unbedingt etwas Negatives, sondern Folgen-Müssen ist ein Problem; Folgen-Können ist eine Möglichkeit, sich zu entwickeln.
Jan Niggemann (2022): Der diskrete Charme der Autorität? Elemente pädagogischer Autorität und Autorisierungen aus erziehungswissenschaftlicher Perspektive. Juventa, Basel.