Der Halle-Prozess wirft Fragen über den Umgang der deutschen Ermittlungsbehörden mit dem verkörperten Internet auf
Im Dezember 2021 jährte sich zum ersten Mal die Urteilsverkündung im Halle-Prozess. Kurz zuvor waren die Mitschriften des Verfahrens erschienen, in dem ein Mann dafür verurteilt wurde, an Jom Kippur 2019 eine Synagoge angegriffen, zwei Menschen ermordet und zahlreiche verletzt zu haben. Beim Lesen der Mitschriften wird erneut deutlich, wie wenig Beachtung die Ermittler:innen der virtuellen Lebenswelt des Verurteilten schenkten, obwohl diese maßgeblich für seine Sozialisation zum Rechtsterroristen war – umso erstaunlicher, wenn man bedenkt, wie sehr unsere Leben inzwischen mit dem Virtuellen verwachsen sind.
Dies zeigt sich unter anderem, wenn man den Reden des Chefs des weltweit größten Social-Media-Netzwerks zuhört. Mark Zuckerberg prägte zuletzt den Begriff „Metaverse“ für die umfassende Einbettung unserer Leben in die digitale Produktwelt seines Unternehmens. Diesem gehe es darum, ein „verkörpertes Internet“ zu schaffen, das es ermögliche, „im Geschehen zu sein und es nicht nur zu beobachten.“ Es solle den Nutzer:innen „ein Gefühl der Gegenwärtigkeit“ vermitteln. So beschrieb Zuckerberg Ende Oktober 2021 die „Vision“ von Meta, der Dachgesellschaft von Facebook, Instagram, Whatsapp und Co. Während den deutschen Staat, wenn es um den Konzern geht, vor allem Fragen der Besteuerung beschäftigen und er die Nutzer:innen in der Bekämpfung von Hate-Speech wie unkultivierte Leserbriefschreiber:innen behandelt, blendete er die Auswirkungen eines solchen „verkörperten Internets“ im Halle-Prozess weitgehend aus.
Rechte Vernetzung
Der Attentäter von Halle reiht sich in eine Liste von Rechtsterroristen ein, die einer Cyborg-Dystopie entsprungen zu sein scheinen. Es ist bekannt, dass er diese als seine Vorbilder verstand. Neben dem Doppelanschlag von Utøya und Oslo im Jahr 2011 verwies er im Prozess auf die Attentate im Münchner Olympia-Kaufhaus, in Christchurch, El Paso und Toronto. Die globalen Bezüge des Attentäters, der sein Leben in der sachsen-anhaltinischen Provinz verbrachte, entwickelten sich vor allem im virtuellen Raum. Doch lässt sich davon sprechen, dass er mit den Imageboards, Streaming-Diensten und Computerspielen, die für ihn einen zentralen Zugang zur Welt darstellten, eine Beziehung der „Verkörperung“ einging?
Die im Video zum Meta-Launch von Zuckerberg vermittelte Vorstellung von der Genese des Internets ist so simpel wie einleuchtend: Zu Beginn war das Medium zwischen Mensch und Maschine der Text, dann das statische Bild und zuletzt das Video. In dieser Entwicklung kam die Maschine den Menschen in Form tragbarer Smartphones oder -watches immer näher. Aber auch das Erleben durch sie näherte sich der Erfahrungswelt der Menschen stetig an – das Verhältnis wurde zunehmend „immersiv“. Zuckerberg stellt sodann die Frage, was als Nächstes komme, und sieht die Antwort in der Vision des Metaverse gegeben.
In den Reaktionen auf den Launch wurde viel spekuliert, was damit genau gemeint sei. Man scheint sich jedoch einig zu sein, dass es beim Metaverse darum gehe, ein Internet zu schaffen, das den Nutzer:innen den Eindruck vermittelt, „wirklich da zu sein“. Diese Seins-Garantie kennt zugleich kein Außen, denn das Metaverse „pausiert oder endet nie“. Menschen werden im Metaverse zu dem, was sie sind und sein können, erst durch die Verbindung mit der Technik.
Das Erlebte erfahrbar machen
Ein Denker, der sich seinerzeit mit Visionen des Mensch-Technik-Verhältnisses und ihren gesellschaftlichen Implikationen beschäftigte, war Walter Benjamin. Ein Ausgangspunkt seiner Überlegungen war die Art und Weise, wie die Avantgarden der 1920er-Jahre – progressive wie die Surrealist:innen und konservative wie Ernst Jünger – mit dem Grauen der hochtechnologischen „Materialschlacht“ des Ersten Weltkriegs umgingen. Teile der Avantgarden verarbeiteten dieses, so Benjamin, als „Erfahrung“, andere hingegen als „Erlebnis“. Erstere stellt für ihn die historische Einbettung des Erlebten dar; Letzteres beschreibt für ihn den Moment der Überwältigung des Individuums, indem das Erlebte ohne Weiteres auf die uniformierenden „Urerlebnisse“ von Gott, Kaiser und Nation zurückgeführt wird. Sie sind der Grund aller Existenz, nur in ihrem Namen ist etwas oder jemand „wirklich da“. Die Verarbeitung der Kriegsgräuel als „Erlebnisse“, als feuersbrünstige Spektakel, deren emotionale und moralische Erschütterungen in ihren Besonderheiten übergangen werden müssen, weil sie für Vaterland und Kaiserreich zu durchleben waren, war, so Benjamin, der Nährboden des Faschismus – auch in der Avantgarde.
Heute gilt es Benjamins Fragen an die Vorreiter:innen der technologischen Entwicklung zu stellen: In welchem Umgang mit dem Neuen, dem Progressiven, dem Visionären der Technik droht sich der Faschismus zu verwirklichen? Die Annahme, dass Aspekte der „Vision“, die Meta für sich reklamiert, in Halle längst traurige Realität geworden sind, liegt nahe. Denn fataler Weise drängte es den Attentäter, wie seine Vorbilder, zur Tat. Um es mit den Worten Zuckerbergs zu sagen, ging es dem Täter wohl darum, „im Geschehen zu sein und es nicht nur zu beobachten“. Manche von ihnen gingen so weit, sich im Internet Zuschauer:innen zu suchen und ihnen während des Attentats per Livestream zum größtmöglichen „Gefühl der Gegenwärtigkeit“ zu verhelfen. Zugleich hinterlässt der Prozess gegen den Täter den bitteren Eindruck, dass ausgerechnet der Staat, der diesen Prozess gegen ihn führte, diese Annahme nicht teilt. Es gibt einige Stellen im Verfahren, an denen sehr deutlich wird, dass die Ermittlungsbeamt:innen sich in ihrer Arbeit kaum eine Vorstellung davon gemacht haben, wie der Angeklagte sich im Internet bewegte.
Beam me up, BKA
Der BKA-Beamte Darius D., dessen Aufgabe es war, „die Hintergründe der Tat in der Welt der Online-Foren zu beleuchten“, wie es auf Seite 250 des Buchs Der Halle-Prozess. Mitschriften heißt, sah es zugleich nicht als seine Aufgabe an, diese zu dokumentieren. Auf die Fragen, welche Boards er besucht und ob er auf dem Imageboard 4chan eine positive Rezeption der Tat wahrgenommen habe, antwortete er im Zeugenstand jeweils, dass „er sich nicht mehr genau erinnern könne“. (249)
Viola T., die Ermittlerin, die mit der Analyse des Gamingverhaltens des Attentäters beauftragt worden war, gab offen zu, dass es beim BKA zwar „Personen gäbe, die solche Kenntnisse hätten“, sie selbst sei jedoch weder Gamerin, noch habe sie die Computerspiele, die der Attentäter spielte, einmal gespielt. (246) Dieses erstaunliche Eingeständnis der Zeugin wird in seiner Relevanz deutlich, wenn man bedenkt, wie viel Zeit der Verurteilte mit Gaming verbrachte. Zudem handelte es sich nicht nur um gewaltvolle, sondern auch um Multiplayer-Spiele, die ihn über das Internet in ein soziales Netzwerk einbanden.
Während des Anschlags spielte der Attentäter Musik, darunter Lieder bekannter rechter Musiker. Die für die Beurteilung der Musik zuständige BKA-Beamtin Yvonne R. stufte diese Musik als eindeutig antisemitisch und rassistisch ein, doch blieb ihr die Bedeutung des Großteils der Playlist verborgen. Sie hielt sie schlicht für „Anime-Musik“ ohne „Bezug zur Tat“ (508), obgleich Animes in Internetforen von Rechten und Incels eine besondere Rolle in der Vermittlung von Inhalten spielen.
So verwundert es auch nicht, dass Peter F., der vom BKA mit der Auswertung verschiedener elektronischer Asservate betraut war, im Prozess erklärte, dass auf dem Hintergrundbild des Computers des Angeklagten „eine Hand zu sehen gewesen sei, die ein Loch oder einen Ring forme“. Es handele sich dabei, so der Zeuge weiter, „um ein Kinderspiel, in dem man den anderen dazu bringe, in dieses Loch hineinzuschauen“. Eine einfache Google-Suche ergibt, dass es sich bei dem vermeintlichen Kinderspiel wohl viel eher um das Handzeichen der White-Power-Bewegung handelte. Peter F. blieb dies verborgen. (240)
Die Geschichte des Einzeltäters
Wie die Nazi-Verbindungen seines Schwagers und der Abschiedsbrief seiner Mutter, in dem sie schreibt, ihr Sohn habe „sein Leben gegeben für die Wahrheit“ (137), verdeutlichen, sind analoge Einflüsse auf den Täter äußerst relevant. Die Mitschriften hinterlassen jedoch den Eindruck, dass die Ermittler:innen nicht in der Lage waren, darüber hinaus der Verstricktheit des Angeklagten mit dem Virtuellen in angemessener Weise nachzuspüren. Die Bundesstaatsanwaltschaft kam daher, wie so oft, zu dem Ergebnis, dass es sich in Halle um das Werk eines Einzeltäters handele. Diesen Punkt betreffende „Kritik [an der Arbeit der Ermittler:innen] entbehrt einer Grundlage“, so der Bundesanwalt weiter (663). Die Haltung seines Repräsentanten lässt kaum darauf hoffen, dass der deutsche Staat zukünftig die der fortschreitenden Immersion seiner Bürger:innen in der digitalen Umwelt innewohnenden faschistischen Potentiale von den emanzipatorischen zu trennen weiß. Um das von den Ermittler:innen als Einzeltat „Erlebte“ zu einer „Erfahrung“ im benjaminschen Sinne zu machen, muss es in einen Zusammenhang mit der Geschichte des rechten Terrors in seiner technologisierten Form gebracht werden. Auf ähnliche Weise ließe sich womöglich auch den faschistischen Potentialen des in der Vision des Metaverse angedachten Verhältnisses von Mensch und Maschine begegnen.
Im Prozess von Halle war es vor allem die Nebenklage, die dieses historische Bewusstsein immer wieder einforderte und den Fokus auf diejenigen zeitgeschichtlichen und technischen Kontexte lenkte, die den Faschismus des Attentäters begünstigten. Die Nebenklägerin Naomi H.-G., die den Anschlag in der Synagoge überlebte, konfrontierte die Ermittler:innen in ihrer Aussage vor Gericht mit deren Versäumnissen, indem sie betonte, sie hätten „sich keine Imageboards angesehen, nicht die Spiele ausprobiert, die der Angeklagte gespielt habe, und nicht auf die Ähnlichkeiten mit den Anschlägen auf der ganzen Welt in Oslo, Utøya, Christchurch, El Paso, München oder dem Mord an Walter Lübcke geachtet“. (326)
Alle Seitenangaben beziehen sich auf Linus Pook, Grischa Stanjek, Tuija Wigard (Hg.) (2021): Der Halle-Prozess. Mitschriften, Spector Books, Leipzig