Schminken spielte als Kind in meinem Leben lange keine große Rolle. Sei es wegen DDR-Überbleibseln, wo Schminken eher als bürgerlich galt. Oder aus der spezifischen Bubble in Berlin, in der es eher dezidiert gegen etablierte Schönheitsideale ging. Ich erinnere mich, dass ich als Achtjähriger und mein damals bester Freund auf Klassenfahrt es als richtig lustige Idee empfanden, als „Mädchen“ zur Abschlussparty zu gehen. Unsere Idee von „Mädchen“ war dann aber die Reinform eines stereotypen Bildes: Weißes Tütü und Red Lipstick. Irgendwo gab es da dann schon die Idee von schminken = feminin. Außerhalb gesellschaftlicher Konvention kann ich demnach auch nicht aufgewachsen sein. Aber trotzdem waren geschminkte Menschen eher die Ausnahme. Schminken gehörte den Clowns, DIY-Schauspielenden oder Drag-Queens. Berlin in den 1990ern. Somit war, zumindest meiner bescheidenen Erinnerung nach, Schminken eher die Entgrenzung als die Norm; eine gewählte Überschreitung oder ein bewusster Akt der Aneignung. Geschminkte Menschen standen da auch eher nicht für ein authentisches Selbst (alternativ: repräsentierten weniger ein authentisches Selbst), sondern galten als Charaktäre, die etwas verkörpern, was sie gerade nicht waren.
Das änderte sich genauso schnell, wie sich Berlin damals änderte. Aber nicht nur in linearen Formen, in dem Sinn, das jetzt konservative Schönheitsideale (wieder) stärker vertreten waren, wie eins das jetzt vermuten könnte. Es war die Zeit rund um die 2010er, als das Fusion-Festival das erste Mal ausverkauft war und die Berliner Clubculture zu so etwas wie einem Weltkulturerbe erhoben wurde. Teile dieser Subkultur spielen auf ästhetischer Ebene mit Genderrollenbildern. In Clubs gab es Schminkecken und irgendwie war es hip und cool sich die Nägel zu lackieren, Eyeliner aufzutragen und seine Erscheinung zu ändern; zumindest für diese eine Nacht. Der kribbelndste Moment von allen war eigentlich eh immer der: sich schminken zu lassen. Das war ein intimer, ein aufregender flirty Moment. Konzentriert gespannt sich schminken zu lassen und ein neues Ich willkommen zu heißen.
Dass es das Berliner Nachtleben war, das kleinen Hetero-Cis-Mäusen wie mir das Schminken näherbrachte, ist dabei kein Zufall. Die Geschichte vom Nachtleben als Gegenkultur kommt explizit aus einer queeren Bewegung: Räume in denen Identitäten lebbar waren, die sonst keinen Ort hatten und von heteronormativer Gewalt zurechtgewiesen wurden. Dieser Teil der Geschichte mixte sich mit dem zunehmenden Durchstarten von Clubkultur zu einem in Richtung Mainstream lehnenden Pop-Phänom. Eine Synergie, deren ästhetischer Ausdruck eben besagtes Produkt war: bunter Nagel, Liedschatten, Rouge und Ohrloch.
Die Kreuzung, wo Berlin = Feiern war, war auch die, wo Feiern eigentlich endgültig kommerzialisiert wurde. Vielleicht lässt sich sagen, dass da die Berliner Clubszene ihren eigenen Sell-out befeuerte und gleichzeitig feierte. Passt zu Berlin.
Doch wie sieht das entlang vom Aufbrechen von heteronormativen Strukturen aus, wenn mit dem fixen Bild von Cis-Männer ≠ Schminke gebrochen wird und lässt sich ausgehend davon ein Aufbrechen vom patriarchalen System festmachen?
Fix würde ich mal sagen, dass die Cis-Hetero-Mäuse, die ich hier im Kopf habe, eine Überschreitung praktizieren, vielleicht war es nur für diese eine Nacht in einem relativen Save-Space: Keine Familie oder Arbeitskollegis weit und breit und am nächsten Tag konnte dann die Scham als „wilde Nacht“ abgetan und weggelächelt werden. Doch wie wird aus dem Bruch in der Nacht der Verrat am System vollzogen? Wie tritt eins ein in die Dissidenz und wie werden patriarchale Zwangsmechanismen aufgebrochen, die sich ausgehend von diesen Mikrobezügen entspannen? Fix ist, dass ein Hochverrat am Patriarchat mehr braucht als einen bunten Nagel, der heraussticht. Vielleicht symbolisiert es der bunte Nagel eh ganz gut: 10 Prozent Queerness, für die Zerschlagung des Patriarchats braucht es allerdings auch die anderen 90 Prozent.