Der Film Europa, kannst du mich sehen? nimmt uns mit auf eine aufrüttelnde Reise an die Außengrenze der EU
Im Jahr 2020 gehen Filmemacherin und Aktivistin Katharina Simunic und Kameramann Jonathan Meiri mit SOS Balkanroute nach Bosnien und Herzegowina, um an der europäischen Außengrenze People on the Move (PoM) zu helfen. Vier Jahre früher wurde die sogenannte Balkanroute bereits „erfolgreich“ von der damaligen Regierung geschlossen, doch was Simunic und Meiri zeigen ist eine humanitäre Notlage, eine einzige Verachtung der Menschenrechte. Österreich blickt weg, aber der Film, der in diesen Monaten entstand, bringt uns Bilder und Szenen von der circa 300 Kilometer entfernten Grenze näher.
Der Film nimmt uns mit nach Bosnien. Dort sehen wir Szenen von leeren Hallen, Müllhalden, Wäldern. In einer großen Halle mit offenen Wänden, offensichtlich schon lange nicht mehr instandgehalten, tummeln sich Menschen. Zwischen den Bergen aus Schrott steht ein verranztes Sofa, ein kleiner Grill und massig Behelfs-Sitzgelegenheiten aus Karton. Hier, kaum vor Regen und gar nicht vor Wind oder Kälte geschützt, leben Menschen, die ihre Heimat verließen, um vor Krieg und Verfolgung zu fliehen.
„Plötzlich bist du illegal, dir zu helfen ist illegal“
In dem 35-minütigen Film werden die vor-Ort Aufnahmen stets von Katharina Schöchs Stimme begleitet, zur Einleitung spricht Rohullah Sarifi eine Aussage aus der Perspektive eines/r Flüchtenden. Es werden Aussagen von Unterstützer:innen, PoM, österreichischen Politiker:innen, Einwohner:innen und Polizist:innen aus der Grenzregion nachgesprochen. Von wem die Aussagen stammen wird nicht angekündigt, man hört sozusagen blind. Das bezweckt eine Verringerung der Vorurteile, wenn man nicht weiß, wer spricht, geht man offener mit den Inhalten um. In den Worten der Regisseurin: „Im Film geht es darum verschiedenen Stimmen dieselbe Wertigkeit zu geben. Somit löst sich die gesellschaftlich geprägte Hierarchie auf. Die Stimme des Politikers sowie die des Geflüchteten oder des Polizisten, sie stehen direkt nebeneinander und sind neutralisiert nachgesprochen.“
Die Bilder der Kamera laufen parallel zum gesprochenen Text. Es sind Bilder, die man sich schwerlich vorstellen kann. Die verlassenen Häuser und Hallen strahlen Ruinencharme aus, die Kamera fängt die Bauten und deren groteske Schönheit unaufgeregt ein. Gestört wird diese Illusion der Verlassenheit durch die Menschen, die dazwischen leben. Harte Kontraste liefern Aufnahmen von Wunden, Ausschlägen und Narben, aber auch von Familien mit kleinen Kindern und Babys. In den vielen Totalaufnahmen wirken die Figuren verloren, hilflos und ohnmächtig. Die verrottenden Wände der Unterkünfte, die sie selbst aufgesucht haben. Aber auch die kalten weißen Wände der eingezäunten Flüchtlingslager in die sie eingepfercht werden. Die offiziellen Flüchtlingslager betrachten wir nur aus großer Entfernung, oft sind es lediglich umfunktionierte Lagerhallen. In die Lager selbst dürfen die Unterstützer:innen- und Kamerateams nicht eintreten. Bilder von Konflikten zwischen den Wachmännern und Außenstehenden, oder heimlich aufgenommene Handyaufnahmen, die den Missbrauch der Wärter zeigen, lassen die Bedrohlichkeit erahnen.
„Hier gibt es Menschenrechte, hast du gehört“
Ein Interview mit drei Kindern. Ihre Gesichter wurden für den Film anonymisiert. Eine der wenigen Szenen, in denen sprechende Personen zu sehen sind. Sie erzählen von der Polizei, die sie, ihre Familie oder andere PoM in den Pushbacks von Kroatien nach Bosnien in die Flüsse schmeißt. Von den Hunden, die die Polizei bei sich hat. Von den Schlägen, die nicht einmal vor Kindern Halt machen. Darauf folgt eine Aussage zu den offiziellen Lagern, zur Korruption innerhalb der Grenzbehörden, die nicht nur humanitäre Hilfe verweigern, sondern sie aktiv verhindern. Sie behalten die Hilfsgüter für sich, wie etwa Decken oder das Essen, welche verteilt werden sollten. Während der Pushbacks wird den Menschen alles abgenommen: Handys, Geld, Dokumente und sonstige Wertsachen. Mittellos werden sie irgendwo hinter der Grenze ausgesetzt.
In der Mitte des Filmes begleiten uns die Worte einer geflüchteten Person. Sie erzählt von ihrer Flucht in den 1990er Jahren und ihrem neuen Leben in Deutschland. An jedem Punkt in ihrer Reise traf sie gute Menschen. Ihr wurde geholfen von anderen PoM, die selbst nichts hatten und ihr trotz eigenem Risiko verhalfen über die Grenze zu kommen. Von den Menschen in Deutschland, die sie herzlich und menschlich begrüßten. Sie sagt, sie hat Glück gehabt. Und heute gibt sie dieses Glück weiter. Ihre große Dankbarkeit befähigt sie dazu, den Menschen, die heute in Deutschland ankommen, zu helfen und willkommen zu heißen.
„Du hast nichts außer Hoffnung“
In den positiveren Momenten des Filmes, wie auch während der vorigen Erzählung, begleiten uns andere Bilder als die bisher beschriebenen. Es sind Momentaufnahmen auf großen Plätzen in Städten, neben Zäunen und Straßen. Die Kinder spielen, die Erwachsenen lachen. Es wird gesungen, getanzt und gescherzt. Trotz ihrer prekären Situation scheint es als würden die Menschen, die Unvorstellbares erleiden müssen, Gemeinschaft finden. Sie demonstrieren unglaubliche Stärke, denn wie Sarifi zu Anfang des Filmes sagt, sie haben „nichts außer Hoffnung“. Besonders während dieser Szenen wird eines ganz klar, was allzu oft in Berichterstattungen verloren geht: Das sind alles Menschen. Das sind alles Individuen, mit eigenen Persönlichkeiten, Familien und Gefühlen. Es gibt nicht die eine Art von „Flüchtling“ und sie sind auch nicht nur Zahlen auf dem Papier, die uns Nachrichtensprecher/innen vorlesen. Der Film vereint ehrliche Momente des Leids und des Glücks und weicht somit gänzlich von der gängigen Darstellung ab. Durch diese Szenen kommen wir den Menschen nahe, wir werden zu ihren direkten Mitmenschen und Vertrauten.
Nicht jede/r kann an die Grenzen fahren um Hilfe zu leisten, umso wichtiger ist es, dass das, was an den Grenzen geschieht, nicht übersehen, nicht vergessen und erst recht nicht ignoriert wird. Die Filmemacherin leistet hier ihren Teil: Sie zeigt uns Szenen, die ungeschönt noch lange nachwirken. Die Aussagen ergänzen das Ganze, die innereuropäischen Perspektiven decken die Abstrusität der Situation und die Heuchlerei der politischen Akteur:innen auf. Die Perspektiven der verschiedenen betroffenen Personen lassen uns mitfühlen, wie es ist politisch im Stich gelassen und nicht mehr als Mensch anerkannt zu werden. Aber auch wie wichtig konkrete Hilfeleistungen von NGOs und Aktivist:innen vor Ort, an den Grenzen für die Menschen sind, und was es für die Asylsuchenden bedeutet in einem fremden Land willkommen geheißen zu werden. Dabei gelingt es Simunic dennoch den Menschen ihre eigene Handlungsmacht nicht zu nehmen, sie werden vom Film nicht in die Opferrolle gedrängt und den Unterstützer:innen wird kein Heiligenschein aufgesetzt. Das halte ich für unglaublich wertvoll, und ich freue mich darauf, den Film vielleicht schon bald auf der ganz großen Leinwand zu sehen.