Erste Episode der neuen Reihe: Vienopolis. In den Fängen der Familie
Roooaaar, Roooaaar!
Ein plötzlicher Lärm bohrt sich durch die Stille und verschwindet. Strobosneaker legt sich ganz flach auf die Wiese, die sich hinter der Böschung erstreckt. Sie dreht sich zu Souschef und flüstert so leise, dass selbst das geschulte Ohr der Superheldenlegende Mühe hat, ihr zu folgen: „Aus absolut sicherer Quelle weiß ich, dass wir Woodchuck-Man, der sich nun schon seit Wochen verdünnisiert hat, in der alten Ruine oben auf dem Hügel finden.“
„So glaubwürdig wie die sonstigen Infos aus der Familie?“, wispert Souschef und ist darauf bedacht, „der Familie“ einen ironischen Unterton zu geben.
„Ja, die Familie. Ich weiß schon, die hatten ihre Differenzen, aber angesichts der bevorstehenden Katastrophe müssen sie zusammenarbeiten!“
„Eh“, nickt der Souschef kurz und starrt in Richtung Hügel, auf dem sich im schwachen Mondlicht die Konturen der Ruine abzeichnen.
Rumpl rumpl dumpf dumpf dumpf dumpf! Rumpl rumpl!
Im Inneren des Hügels schnaubt und stößt es, als läge der Erde etwas schwer im Magen. Die beiden Held:innen bleiben unbeirrt. „Der Wind steht günstig für uns. Doch jederzeit kann eine Murmeltierpatrouille auftauchen“, flüstert Strobosneaker und hält inne.
„Ich würde wirklich gerne wissen, wie er die Murmeltiere gefunden hat“, ruft Souschef im Weitergehen eher zu sich als zur Weggefährtin. Sein ganzes Leben hatte er alles mit den Händen erledigt: Filetieren, Hacken, Häckseln, Tranchieren, die letzten Griffe an der Durchreiche und natürlich das kunstvolle Drapieren der Salatbeilagen. So hätte er wohl sein ganzes Arbeitsleben in schlecht belüfteten Küchen verbracht, wenn nicht eines Tages der Konvektomat schadhaft überhitzt und den Souschef in einen beißenden Dampf aus Essigessenz und verkohlten Raunen gehüllt hätte. Seit diesem Tag vollzieht er sämtliche Kochbewegungen in einem furiosen Tempo und gilt als Fixstern am Himmel der Helden:innen. „Selbst im größten Wirbel zur Mittagszeit war ich doch eigentlich immer allein“, führt der Souschef seinen Gedanken fort und reibt kurz die schwieligen Hände. „So eine kleine Armee, oder zumindest ein paar Weggefährten, das wär schon fein.“
Rumpfdumpf rumpfdumpf rumpfdumpf!
Strobosneaker war ihm hinterhergeeilt, zieht ihn zu Boden. „Leise, hörst du nicht?“
Wie die Nacht das Tageslicht verschlingt und in Dunkelheit liegt, bis am Morgen mit den ersten Blähungen das Sonnenlicht wiederum die Nacht verschlingt und das große Schauspiel von Hell und Dunkel wieder von vorn beginnt, so scheint sich auch hier unter der Oberfläche etwas durch die von Magenkrämpfen geplagte Erde langsam durch den Darm zu winden.
Rumpfdumpf rumpfdumpf rumpfdumpf! Rumpl fuch rumpl fuch!
„Ich hör’ nichts. Hörst du etwas?“
„Ich auch nicht, aber, mein lieber Souschef, heute bist du nicht allein. So viel ist gewiss. Los geht’s!“ Strobosneaker aktiviert ihr Nahlicht, das für Außenstehende ab einer mittleren Entfernung nicht sichtbar ist, und beginnt mit langsamen Bewegungen, den Hügel hochzurobben. Souschef erreicht bald die gleiche Höhe und kämpft merklich mit dem Gewicht seiner Utensilientasche. Unter einem knorrigen Apfelbaum halten die beiden kurz inne.
Umpf fffaaarrrt-t-t – Alarmsignal. Die Erde legt los.
„Ich glaub, da hat was geraschelt“, presst Souschef zwischen den Lippen hervor. Strobosneaker schwenkt ihre leuchtende Handfläche und taucht zwei Murmeltiere in das fahle Licht. Ihre Knopfaugen scheinen hervorzutreten, entsetzt drehen sie sich zueinander, richten sich auf und beginnen, die Bäckchen zu plustern. Schwomp! Souschef stülpt eine massive Käseglocke über die verdatterten Tierchen, deren Warnschreie im Inneren verhallen. „Auch gut gegen korsischen Schimmelkäse“, schmunzelt Souschef, schiebt flink im richtigen Moment, als die Murmeltiere tief einatmen, eine kleine Karotte unter die Glocke und beschwert alles mit einer Kasserolle. „Ihr Fehlen wird nicht lange unbemerkt bleiben, jetzt aber zackig!“, zischt Strobosneaker und kriecht unter Zuhilfenahme der Ellbogen zu den ersten Steinen der einst ansehnlichen Residenz. Da hinten ist ein Licht, signalisiert sie mit einer behutsamen Handbewegung und klettert behände über das Absperrgitter. Gebückt schreiten sie durch die Vorhalle, deren Säulen verfallen und bemoost sind.
B-b-bbbrrruff bruff! B-b-b-b-bbbrrruff bruff!
Die Erde öffnet sich und zeigt, was in ihr ist.
Plötzlich löst sich jemand aus dem Dunkel und stellt sich ihnen in den Weg. Auf seinem Kopf ist eine verbeulte Stoßstange montiert. „Acceleration-Man“, versetzt Strobosneaker empört, „stets in der Nähe des schnellen Geldes!“
„Ihr kommt zu spät“, grollt jener und neigt sein Haupt, sodass sein imposanter Rammbock auf Strobosneaker zielt. Sie aktiviert ihre Stroboblitze und vollführt einen wahrlichen Veitstanz. Acceleration-Man setzt mehrmals an zu seiner wuchtigen Beschleunigung, die jeden Vorstadt-SUV erblassen ließe, doch Strobosneaker scheint im grellen Lichtstakkato sprunghaft ihre Position zu wechseln. „Euch ist wohl nicht die gesamte Dimension bewusst. Ignoranten verdienen kein langes Leben!“ Acceleration-Man schabt mit den Füßen und fixiert Strobosneaker. Schwuuhh! Wie ein Geschoss durchbricht er den Raum und gewinnt auf der Crème fraîche, die Souschef in Sekundenbruchteilen – Splatsch! – auf den Boden schüttet, nochmals an Geschwindigkeit. Er verfehlt Strobosneaker knapp und kracht geräuschvoll – Tromp! – in das historische Gemäuer. „Der ist mal geparkt“, brummt Souschef zufrieden und verstaut die Gastrotube routiniert in seiner Tasche. Strobosneaker war inzwischen zur Ruine gelaufen und lehnt an die Wand gedrückt neben dem Eingang.
Es gibt keine Tür, nur ein schwarzes Loch, das tief in das Innere führt. Nur was mag sich darin verbergen? Wo ist Woodchuck-Man? Baut er an der geheimen unterirdischen Photovoltaikanlage, als grüner Gamechanger in der Klimakrise? Wird Woodchuck-Man die Welt retten oder nur sich selbst? Kämpft er im Inneren gegen Mischmasch-Mike, eine rosafarbene, dünnhäutige Maulwurfart, die Erde in Beton verwandelt? Baut er etwa selbst an einem geheimen Gang zum Land des nach Fäulnis riechenden Sumpfs, dort, wo die große Familie ihren Stammsitz hat? Oder versteckt er sich hier, da die Königin der Familie, hinter vorgehaltener Hand stets die schwarze Weltenlenkerin genannt, selbst gräbt, um alles zu untergraben, bis sie am Enddarm der Erde selbst hindurchschlüpft, in voller Pracht?
Noch wissen wir es nicht … aber bald!