MALMOE

Christian Boltanski und die Reminiszenz an glückliche Familien

Ausgeschlossen, dass wir den Urlaub vergessen, den wir niemals hatten

In tragendem Schwarz-Weiß lachen die Mitglieder der Familie D., die nicht zur Familie Christian Boltanskis gehören, von den Fotos aus ihrem Urlaubsalbum. Es sind Aufnahmen saturierter Glücksmomente, heißer Sommer und verwandtschaftlicher Intimität auf dem Segelboot, an der Küste, im Kleingarten. Apparativ festgehalten mit der Kamera, doch erfasst mit einem fast zärtlichen Blick der Vertrautheit durch den Sucher.

In seiner Arbeit 1939–1964 Album de photos de la famille D. von 1971 erweckt der 2021 verstorbene Künstler mithilfe der Familienalben eines unbekannten Freundes (wiederum einem Mitglied der Familie D.) seine eigenen Erinnerungen an die Vierziger- und Fünfzigerjahre zum Leben. Ohne die Familie D. genau zu kennen, reichen Boltanski die kleinformatigen Indizes des Familienglücks zur Rekonstruktion großformatiger Urlaubsgefühle.

Denn – so erklärt er sich in einem Textdokument, das ein den Bildern vorangestellter Bestandteil der Arbeit ist – hinter dem vermeintlich voyeuristischen Blick in das Miteinander fremder Kleinfamilien steht nicht (nur) neidvolle Neugier, durch die das Arkadien des kleinbürgerlichen Privaten oft tangiert wird. Im Gegenteil.

Es wird seziert

Und so ordnet er die Fotoalben einer fremden Familie neu. In Boltanskis Neu-Arrangement der Alben wird der Zauber der Individualität und Einzigartigkeit der Familie aufgelöst. Als Vehikel der Rekonstruktion der Erlebnisse des Künstlers verlautbaren die Fotos der Familie D.: Durch die Aneignung der Bilder durch Boltanski wird nicht dessen eigene Geschichte zur Fiktion, sondern die Fiktion der einzigartigen, glücklichen Familie in der bürgerlichen Gesellschaft sichtbar gemacht. „Ich habe deshalb so viel über meine Kindheit gearbeitet, weil ich sie vergessen wollte“, sagte er 2006 in einem Interview. In 1939–1964 Album de photos de la famille D. kann man belebte Erinnerungen dabei beobachten, wie sie Seite für Seite zu Artefakten gesellschaftlicher Strukturmerkmale zersetzt werden.

Und trotz der leichten Schadenfreude, die sich im Herzen der linksradikalen Betrachter:in einstellt im Moment der Erkenntnis darüber, dass die Kleinfamilie noch nie mehr war als scheinhafte Vermittlung unfreiwillig eingegangener Verhältnisse und ein paar individuelle Muster auf Badeanzügen, wächst die Beklommenheit. Bei aller Enttarnung bürgerlichen Glücks: Nirgendwo hält sich die Erinnerung daran so beharrlich wie in dem Stapel verwackelten Lachens, in der schmerzvollen Miene zu der sich schälenden Haut, in den Bildern von vier Quadratmetern Frieden auf Frottee.

Nostalgie, wenn das letzte Kleinod fällt

Urlaubsalben, diese sorgsam kuratierten Konvolute voller Bilder sommerlicher Selbstaufgabe, gibt es nicht mehr. Fiel die Bastion Familienurlaub, als Smartphones und soziale Medien uns ein neues Konzept der Zeit brachten, das keine abgeschlossenen Ereignisse kennt? Bedeutet Simultanität lediglich, dass wir mehr sehen, aber weniger erleben? Ist uns die Fähigkeit, zu erzählen, verloren gegangen, weshalb wir nurmehr zeigen? Oder sind uns schlichtweg die Urlaube abhanden gekommen, über die wir hätten erzählen können? Die Erinnerung an den Urlaub erzeugte beim Diaabend eine (mitunter durchaus peinlich berührte) Vorfreude auf den Kommenden – die unumstößliche Redundanz des Familienjahres. Fünfzig Jahre nachdem Boltanski eine visuelle Fährte zur Entlarvung des Familienglücks legte, findet sich an ihrem vorübergehenden Ende lediglich eine magere Beute, um nicht zu sagen ein Kadaver: Nicht die Kleinfamilie wurde aufgegeben, sondern schlichtweg eines ihrer (noch wohltuenderen) Rituale gestrichen. Aus dem nostalgischen Balsam des Urlaubsalbums ist ein Piktogramm auf einer Timeline geworden, verschmiert nicht durch die flirrende Hitze der Sonne, sondern lediglich durch den Fettfilm auf dem Display.

Die Arbeit 1939–1964 Album de photos de la famille D. von Christian Boltanski war im Rahmen der Ausstellung Ludwig Wittgenstein. Fotografie als analytische Praxis bis 27. März 2022 im Leopoldmuseum in Wien zu sehen. Sie ist außerdem teilweise online einsehbar in der Sammlung des MMK Frankfurt unter collection.mmk.art.de.