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Soforthilfe via App?

Die KälteApp des FSW wird drei Jahre – allerhöchste Zeit für eine kritische Betrachtung (Teil 1)

Auch in den Sozialbereich halten zunehmend Applikationen Einzug. Augenscheinlich sollen sie das Leben erleichtern, kompetente Hilfe anbieten und Leiden verringern. Der Fonds Soziales Wien (FSW), einer der zentralen Träger in der Wiener Wohnungslosenhilfe, hat vor drei Jahren die sogenannte KälteApp vorgestellt. Doch trotz der scheinbar noblen Ansprüche – schnell Hilfe für Hilfsbedürftige zu rufen – ist, so soll in diesem Text ausgeführt werden, nicht nur die Konzeption problematisch, sondern es drängt sich die Frage auf, welchen Daseinsgrund die App im Wiener Kontext hat. Besonders vor dem Hintergrund, dass Aspekte der App nicht nur aktiv an der Abschaffung eines gesellschaftlichen und zwischenmenschlichen Zusammenhalts beteiligt sind, sondern Bedürftige bei Fehleinschätzungen tatsächlich in Gefahr gebracht werden können.

Der erste Teil dieser Serie beschäftigt sich mit den internen Dynamiken im FSW, Aspekten der Entstehungsgeschichte sowie dem Kontext, in dem die App veröffentlicht wurde. Im nächsten Teil wird es am Beispiel der KälteApp um Betrachtungen zum falschen Versprechen von Apps in Bezug zu Solidarität und Gemeinschaftlichkeit gehen.

Was ist die KälteApp?

Die KälteApp des Fonds Soziales Wien ist eine im Rahmen des sogenannten „Winterpakets“ – das jährlich von Oktober bis April laufende Förderprogramm der Stadt Wien zur Unterstützung von Menschen, die von Obdachlosigkeit betroffen sind – 2019/2020 vorgestellte Applikation, die es ermöglichen soll „noch einfacher und rascher als bisher Unterstützung” für Menschen anzufordern, die (augenscheinlich) von Obdachlosigkeit betroffen und aufgrund der Kälte (vermeintlich) in Gefahr sind. So hat es der Stadtrat für Soziales, Peter Hacker, bei der Pressekonferenz anlässlich der Veröffentlichung kundgetan. Mit einem Device kann via KälteApp eine Meldung über vermeintlich obdachlose Personen, die sich in Wien aufhalten, gemacht werden. Das ist für Menschen gedacht, „die in den Wintermonaten Hilfe brauchen”, wie es auf der Homepage heißt. Zusammen mit einer knappen Personenbeschreibung sowie Zeit- und Ortsangabe wird die Meldung an ein mobiles Einsatzteam aus Sozialarbeitenden weitergeleitet. Damit, so heißt es im Presseankündigungstext, hält „die Digitalisierung nun auch im Winterpaket Einzug”. Diese Entwicklung wird dort auch als logischer Schritt gesehen, da ja viele junge Menschen lieber über WhatsApp oder durch Sprachnachricht kommunizieren würden, als zum Telefonhörer zu greifen, ergo zu telefonieren.

Dabei bezieht sich das „zum Telefonhörer greifen” auf das seit Jahren mit Expertise aufgebaute und bekannte Kältetelefon (Tel. 01 480 45 53) der Caritas. Hier können sich sorgende Passant:innen anrufen, um Hilfe für Personen in Kältenot zu rufen. Der Kältebus der Caritas geht dann gemeinsam mit weiteren Trägern bis spät in die Nacht den eingetroffenen Meldungen nach. In vielen Nächten, besonders in den kälteren, die eben auch die lebensgefährlicheren sind, ist es oft nicht möglich, allen Aufträgen nachzugehen. Es müssen Prioritäten gesetzt werden, die aufwändige Koordinierungen erfordern. Eine hochkomplexe und feinfühlige Angelegenheit, die zum Beginn jedes Winters erneut einer Einspielungsphase bedarf.

Die für viele überraschende Einführung der KälteApp störte und irritierte das etablierte System. Anstatt das eine, funktionierende aber überforderte, System aufzustocken, gab es nun plötzlich zwei parallele Meldekanäle von zwei verschiedenen Sozialhilfeträgern (via Telefon über die Caritas und via App über den FSW), was eine Vielzahl organisatorischer und koordinatorischer Herausforderungen mit sich brachte, die auf die Schnelle nicht bewerkstelligt werden konnten. Doch mehr als das: Die Funktionsweise der App gefährdet Menschen, sodass es zu lebensbedrohlichen Szenarien kommen kann. Darauf wird, nach einem Absatz über die Machtkämpfe im Sozialbereich, noch im Detail eingegangen.

Politischer Kampf

Dass der FSW als ausgelagertes, privatwirtschaftliches Konstrukt, das seit über 20 Jahren ehemalige Arbeitsbereiche der Stadt Wien abwickelt, in direkter SPÖ-Nähe steht, ist kein Geheimnis. Der bereits zitierte aktuelle Stadtrat für Soziales Peter Hacker (SPÖ) war Gründungsperson des Fonds. Die Caritas auf der anderen Seite ist politisch schwarz gefärbt und steht damit der ÖVP nahe. Historisch unterschiedlich gewachsen übernehmen diese beiden Träger heute große Tätigkeitsfelder im Sozialbereich und hier besonders in der Wohnungslosenhilfe. Während die Caritas durch Spenden querfinanziert wird, sowie größtenteils aus Mitteln der Stadt, die vom FSW verwaltet werden, finanziert wird, ist der FSW fast gänzlich aus öffentlichen Mittel finanziert. Der Fonds tritt neben der Verteilung und Koordination der Angebote auch selbst als Anbieter von Leistungen auf, was eine von Konkurrenz und Druck geprägte Dynamik verstärkt: Die Veröffentlichung der KälteÄpp 2019 war, so könnte man sagen, nicht in erster Linie ein humanistisches Projekt, wie es Peter Hacker versucht zu verkaufen, bei dem es um den „Schutz von obdachlosen Menschen geht”, sondern der Versuch, die Position der Caritas im Wohnungslosenbereich zu schwächen. Doch ist der FSW nicht nur an einer Zentralisierung der Vergabe von Hilfsmittel unter seiner Regie interessiert, sondern seit der Privatisierung auch an Möglichkeiten der Vermarktung eigener Leistungen, Produkte und Angebote aus, um so zusätzliche Einnahmen zu lukrieren. Nicht zufällig erinnert das Vokabular – „Vermarktung eigener Leistungen“ – an den Sprech der „Freien” Wirtschaft.

In den letzten zehn Jahren setzt sich im Sozialbereich zunehmend durch, dass die eigenen Angebote nach Profitlogiken funktionieren müssen. Der FSW ist in diesem Spiel mehr als nur Teilnehmer. Federführend ist er am Umbau des Sozialbereichs entlang von New Public Management Richtlinien beteiligt. Hinzu kommt, dass Sozialträger wie das Rote Kreuz, Arbeiter Samariter Bund, Volkshilfe Wien, die Johanniter oder eben die Caritas zunehmend in einem Konkurrenzverhältnis zueinanderstehen. Die Träger müssen Angebote stellen, die dann entweder vom FSW abgesegnet, abgelehnt oder angepasst werden müssen. Da ist es naheliegend, dass der FSW die Landschaft so gut und engmaschig wie möglich zu kontrollieren.

Diese neue Konkurrenzsituation führt dazu, dass sich Träger in puncto Kosten unter- und in punkto Angebot und Leistung überbieten müssen. Eigene Angebote müssen öffentlichkeitswirksam vermarktet werden. Auch hier spielt der FSW seine paradoxe Doppelrolle als gleichzeitig Anbietender und Auftraggeber aus: Regelmäßig prägen groß angelegte Werbekampagnen das Stadtbild – besonders offensiv für den lukrativen Bereich der Altenpflege. In den Wintermonaten wurden auch kostspielige Werbeaktionen für die KälteApp gestartet.

Die fundamentale Veränderung im Sozialbereich, die hier knapp skizziert wurde, wirkt sich selbstredend sowohl auf die Angestellten als auch auf die Hilfsbedürftigen aus. Dass diese in einem nach Hochglanz, Verwertungslogiken und Profitmaximierung ausgerichteten System nur Störfaktoren sind, zeigt der begründete Protest von Basismitarbeitenden zur Einführung der App im Oktober 2019.

Vermarktung gefährlicher Ideenlosigkeit

So wie der ganze Bereich der Wiener Wohnungslosenhilfe recht überraschend, zumeist erst über die Presseaussendung, von der KälteApp erfahren hat, traf es auch die Straßensozialarbeiter:innen von Obdach Unterwegs, die als Tochterunternehmen direkt dem Fonds unterstellt sind. Die mobilen Straßensozialarbeitenden waren auserkoren, fortan den Aufträgen nachzugehen, die über die App eintrudelten. Ihre über Jahre täglich akquirierte Expertise floss dabei, zum Missfallen des Teams, im Vorhinein nicht in die Konzeption der App ein.

Ein kollektiv verfasster interner Protestbrief vom Streetwork Team des FSW, der uns zugespielt wurde, beschreibt sehr nachvollziehend und geduldig die Problematik der App; mit dem dringenden Hinweis, dass eine Unterstützungsanforderung, die über die App getätigt wird – anstatt etwa in einer Notsituation direkt die Rettung zu rufen! –, lebensgefährlich sein kann. Die App suggeriert eine schnelle und angemessene Unterstützung, die aber in Anbetracht der akuten Gefahr, in der sich die Betroffenen befinden, professionell nicht vertretbar ist. Denn über die App kann weder gewährleistet werden, dass rechtzeitig Hilfe zur Stelle ist, noch ermöglicht die sehr knapp gehaltene One-Way-Kommunikation einen adäquaten Informationsaustausch, der den Fall angemessen bewerten ließe, um so eine mögliche Priorisierung für das Anfahren von Aufträgen vorzunehmen. Eine nachvollziehbare Kritik, die einen Tag nach Einführung der App bei einem Besuch der damaligen Bereichsleitung aufgegriffen wurde: in Form einer, wie uns von ehemaligen Angestellten erzählt wurde, zehnminütigen Standpauke ob der Unmöglichkeit dieses Briefes, der zwar eine an sich legitime Kritik äußere, aber an Adressant:innen verschickt worden sei, die von diesem „internen” Konflikt nichts hätten wissen sollen. Das auch, weil die angeführte Konkurrenzdynamik keine Kratzer am Image verträgt, denn das schmälert die Wettbewerbsfähigkeit. Beendet worden sei diese Disziplinarrede mit dem Satz: „Wem es hier nicht gefällt, der kann sich einen anderen Job suchen.” Raum für Antwort oder Gespräch, bzw. eine Möglichkeit, die Inhalte des Briefes zu verhandeln, soll nicht eingeräumt worden sein.

Der FSW hat gesprochen

Ordnung wurde durch Dominanz hergestellt. Genauso wurde (und wird) durch Ignoranz Leben gefährdet. Das hypothetische Szenario aus dem Protestbrief, in dem die Problematik der App anschaulich dargestellt wurde, sollte sich im Dezember des Jahres 2019 bewahrheiten. Anstatt direkt eine Rettung zu rufen, schien es für einen Passanten mit der Absetzung einer Nachricht über die KälteApp getan. Die sich in Gefahr befindende Person lag in einem kalten U-Bahnhof, völlig durchgefroren. Das Straßensozialarbeitsteam erhielt die Meldung und musste aus einer Vielzahl von Aufträgen priorisieren und kam nicht schnell genug zum Ort des Geschehens. Nur durch einen glücklichen Zufall wurde von anderer Seite auch die Rettung gerufen, die dann direkt die nötigen Hilfsmaßnahmen einleitete. Doch zeigt dieses Beispiel, wie Zivilcourage fehlgeleitet werden kann: Weil sowohl die App selbst, als auch die Bewerbung der App suggerieren, dass in sehr kurzer Zeit ein kompetentes Straßensozialarbeitsteam („Profis”, wie es der FSW hipp ausdrückt) vor Ort sein würde, um die Situation abzuklären. Über die App gibt es weder die Möglichkeit für direkte und essenzielle Rückfragen wie: „Hat die Person eine Decke?” „Sind die Hände blau?” oder „In welchem U-Bahnhofeingang hält sich die Person genau auf?” noch ist es möglich (außer bei ausdrücklicher Einwilligung) Kontakt mit dem:der Melder:in aufzunehmen. Ein Telefonat mit der Rettung bzw. dem Kältetelefon auf der anderen Seite ermöglicht den Austausch über genau diese elementaren Informationen. Telefonisch kann auch direkt rückgemeldet werden, dass doch bitte sofort die Rettung verständigt werden soll. Jetzt sind wir im dritten Jahr der in zweierlei Hinsicht ressourcenfressenden KälteApp: was die Entwicklungskosten, aber auch die Personalkraft, die es zur Bearbeitung der Meldungen benötigt, betrifft. So wurde auch dieses Jahr Anfang Oktober, zum Beginn des Winterpakets, an alle Wienerinnen und Wiener mittels Presseaussendung appelliert, dass sie sich doch die App herunterladen sollen.

Aber warum?

Da tut sich natürlich die Frage auf, warum der FSW so vehement an der KälteApp festhält. Warum dieses Instrument, das Bedürftige, wie der Text hier aufgezeigt hat, solch einem Risiko aussetzt anstatt sie zu unterstützen? Warum dieses Instrument, das routinierte und eingespielte Arbeitsweisen durcheinanderbringt, aufgebaute Kooperationen irritiert und das an sich funktionierende Modell der Caritas unterwandert? Das alles lässt keinen anderen Schluss zu, als dass es hier in erster Linie um Konkurrenz, Vorherrschaft und Vermarktbarkeit geht. Denn „Menschen” werden beim FSW schon lange nicht mehr gesehen. Es werden Zahlen gehandelt und Quantitäten ausgemacht, dabei überspielt ein scheinbarer Humanismus die Verwertungslogiken, die schon länger die Arbeitsweisen im Sozialbereich bestimmen.

Im nächsten Teil der Serie wird aufgezeigt, warum die damalige Sozialsprecherin der Wiener Grünen mit ihrer Aussage „Die neue App kann einen Beitrag für mehr Achtsamkeit und Solidarität in der Gesellschaft leisten” daneben liegt, wieso Peter Hackers Statement, gerade in Krisenzeiten sei sozialer Zusammenhalt mehr denn je gefragt, zwar zuzustimmen ist, aber die KälteApp gerade das nicht zu leisten vermag. Und wie es kommt, dass ein junger Grafikdesigner die bessere App für Betroffene programmierte.