Im Kino lässt sich erfahren, was sonst unmöglich scheint. Dennoch ist uns das Gesehene meist näher, als wir glauben. Über den Zusammenhang von Film und Alltag.
Alltag, das heißt für viele meist: Lohnarbeit, Ausbildung oder Reproduktionsarbeit. Für Kino ist dazwischen nur selten Platz. Denn so wie der eigene Tag durch die Produktionsverhältnisse der Arbeit strukturiert ist, scheint es für unzweckmäßiges Vergnügen keinen Grund und deshalb auch keine Zeit zu geben. Das abendlich servierte Programm von Netflix bildet darin keine Ausnahme. Gerade dort ist der vermeintlich selbstvergessene Konsum bedingt durch ein effizienzbasiertes System. Individuelle Bedürfnisse müssen sich notgedrungen anpassen, um davon bedient zu werden. So schaut man ein paar Folgen der Serie, von der zurzeit alle wieder reden. Zur Ablenkung liegt nebenbei das Smartphone in der Hand, um die nichtssagenden Lücken auszufüllen. Wie im Halbschlaf vergeht ein Abend, bis man endlich den Weg ins Bett findet. Der nächste Tag kann beginnen.
Die Wirklichkeit geht ins Kino
Im eigenen Zuhause ist es bei vielen in den letzten zwei Jahren sehr bequem geworden. Die Couch hat nun ein Fußteil, zum Laptop gesellt sich neuerdings ein Beamer mit Soundbar. Warum also noch die Wohnung verlassen, wo man doch nur einen Film sehen will? Stören andere Menschen nicht sowieso? Zudem ist die Auswahl des Programms in Kinos – gerade am Land – oft so beschränkt wie die Speisekarte am Würstelstand. Im Gegenteil zum Wohnzimmer verkörpert das Kino einen Ort, der sich nicht ohne Weiteres in den Alltag integrieren lässt. Es liegt abseits von diesem und der Weg dorthin erfordert Mühe. Darüber hinaus ist es in den meisten Fällen alles andere als bequem.
Auch wenn das Kino fern vom Alltag liegen mag, weist es doch in den Filmen eine seltsame Affinität zu ihm auf. Meist ist das ‚normale Leben’ der Ausgangspunkt einer Geschichte über das Verlassen geregelter Bahnen. Erst muss etwas Außergewöhnliches passieren, um einen Blick über den Tellerrand zu ermöglichen. Das Interesse wird geweckt, neue Bilder können entstehen. Was zuvor noch selbstverständlich wirkte, ist auf einmal fremd geworden. Inwieweit man sich mit dem gezeigten Leben im Film identifizieren kann, wird durch die Darstellung und das eigene Erleben bedingt. So stellt sich damit implizit immer die Frage, was das Gesehene mit einem selbst zu tun hat.
Das unabhängige Autor:innen-Kino hat den Alltag wieder und wieder zu seinem Spielort erklärt. Daraus entwickelten sich Traditionen und Schulen, die sich in regelmäßigen Abständen bis heute neu erfinden. Vor allem der italienische Neorealismus, beginnend in den 1940er Jahren, steht synonym dafür, soziale Wirklichkeit abzubilden. Gedreht wurde in den Straßen und Brachflächen der Trabantensiedlungen. Das Handeln der dort befindlichen Menschen scheint fremdbestimmt von den ausweglosen Verhältnissen zu sein. Jedes Bild gleicht der verzweifelten Suche nach Autonomie. Realismus hat in dieser Form weniger die Funktion, Wirklichkeit zu verdoppeln, als sie mit einer zweiten zu konfrontieren. Man kann das sowohl als Rettung wie als Flucht begreifen.
Geschirr spülen und träumen
In Großbritannien hat sich einige Jahre später ein Kino entwickelt, das offenbar in ähnlicher Weise auf die alltägliche Wirklichkeit zugreift. Gegenüber seinen kontinental-europäischen Vorbildern scheint es eher danach zu suchen, eine Verbindung zwischen Bild und Gegenstand herzustellen. Gleichzeitig behält es sich dabei eine Distanz vor, die eine Identifikation mit dem gezeigten Leben andeutet, aber nie ganz zulässt. So lassen Filme wie jene von Mike Leigh in ihrer Lakonik die Menschen mehr sein als hilflose Opfer ihrer Umstände. Sein erster größerer Erfolg, Life is sweet, spielt, wie auch andere seiner Filme, innerhalb der britischen Arbeiterklasse. Changierend zwischen Wohnzimmer, Arbeitsplatz und Kneipe werden darin unentwegt die Probleme des familiären Zusammenlebens verhandelt. Ohne eine Schablone zu liefern, klingt jeder Satz so, als hätte man ihn selbst schon einmal gesagt. Was vielleicht augenscheinlich als Klischee daherkommt, verbirgt den Abgrund, dass sich unsere Lebensentwürfe doch weniger voneinander unterscheiden, als der bürgerliche Individualismus glauben lässt.
Gleichwohl sehen wir den Familienmitgliedern dabei zu, wie sie sich daraus befreien. Andy, der Vater, kauft einen alten, heruntergekommenen Wohnwagen, mit dem er in Zukunft sein eigenes Geschäft betreiben will. Natalie, eine der beiden Töchter, plant unterdessen eine Reise in die USA. Parallel dazu setzt Aubrey, ein schrulliger Freund der Familie, alles daran, ein eigenes Restaurant in der Siedlung zu eröffnen. Doch nachts sind die Straßen leer, so wie jede dieser Hoffnungen unerfüllt bleibt. Kontrastiert wird das durch die Figuren der Mutter Wendy und der Zwillingsschwester Nicola. Beide handeln vorgeblich souverän innerhalb ihrer Möglichkeiten, worin sich aber gerade die Tragik ihres Lebens ausdrückt. Könnte die Zeichnung ihrer Charaktere nicht widersprüchlicher sein, liegt doch das ungehaltene Lachen der überlasteten Mutter nicht so weit von der hilflosen Traurigkeit ihrer Tochter in ihrer Suche nach Identität entfernt. Für einen Moment schenkt man sich gegenseitigen Halt in der ständigen Drehung um sich selbst und andere. Das lässt die Probleme und Sorgen zwar nicht verschwinden, macht sie aber unmittelbar erträglicher.
Wie im echten Leben
In Mike Leighs Film wird der alltägliche Trott durch einen Unfall des Vaters auf der Arbeit unterbrochen. Die merklich zerrissene Familie findet plötzlich wieder zusammen. Gemeinsam versammelt auf dem blumigen Wohnzimmer-Sofa scheint für einen Augenblick trotz des Unglücks alles in Ordnung. Dass dem nicht so ist, rückt spätestens mit dem Zeitpunkt des Abspanns wieder ins Bewusstsein. In Life is sweet wird durch den verschobenen Blick ein Zustand in der Schwebe gehalten, der die Frage nach den Möglichkeiten offenhält. Der Impuls beim Filmschauen, dass etwas nicht stimmig sei, zum Beispiel die Ausstattung oder das Handeln der Personen, legt die Trennung zwischen Film und dem eigenen Erfahrungshorizont direkt offen. Zu erkennen, worin diese Erfahrung besteht, wird erst mit dem Abstand von Kino und Alltag möglich.