MALMOE

Mutant Venus Arca

Arcas Musikvideos als digitale Imaginationsräume von Körper und Geschlecht

Im Sommer 2017 legte mir ein besonderer Mensch die Musik von Arca ans Herz. Ich war sehr fasziniert von den musikalischen Kompositionen und den dazugehörigen Musikvideos und verlor mich in dieser neuen Welt. Im Frühjahr 2020 erschien Arcas drittes Album KiCk i. In Kooperation mit anderen Künstler:innen entstanden großartige audio-visuelle Werke, in denen sich Geschlecht und Sexualität in digitalen Räumen neu gestalten.

Arcas Selbstrepräsentationen in digitalen Sphären vereinen queere und posthumanistische Positionen und visualisieren, was der Musikwissenschaftler Michael Waugh im Kontext von Post-Internet-Musik als „Cyborg-Porträt“ bezeichnet. Cyborg (CYBernetic ORGanism) verweist hier einerseits auf das in der Science-Fiction vorkommende Motiv des Maschinenmenschen, dessen Körper mithilfe von Technologie verändert und optimiert wurde. Andererseits deutet „Cyborg“ auf das Konzept Donna Haraways hin, welches sie in mit ihrem Cyborg Manifesto illustriert. Mit „Cyborg Porträt“ werden all jene Repräsentationen, Darstellungen und Produktionen beschrieben, die Künstler:innen wie Arca in digitalen und vom Internet geprägten Sphären herstellen, sei es musikalischer, visueller oder sprachlicher Art. Das Konzept des Posthumanismus nimmt dabei eine wichtige Rolle ein und die Musikvideos zu KiCk i eröffnen dafür einen neuen Imaginationsraum.

Auflösung und Neuerschaffung

Einer dieser Imaginationsräume entstand mit dem Videokünstler Frederik Heyman im Video zum Track Nonbinary. Das Experimentieren mit der Darstellung von organischen und maschinellen Körpern ist ausschlaggebend für die Ästhetik. Einflüsse des Posthumanismus sind in diesem visuell aufgeladenen Kompositionsspiel gut erkennbar. In vier Teilen werden in Nonbinary unterschiedliche Zustands- bzw. Produktionsstadien von Arcas Körper visualisiert. Neben einer dystopischen und eher gewaltvollen Atmosphäre umgibt die erste Szene, die auf Heymans Website den Titel evaporating trägt, etwas Mystisches und Verträumtes. Organisches und Maschinelles stehen hier in direktem Kontakt zueinander: Arcas nackter Körper liegt auf einem Felsen, umrankt von Flechten und glühwurmähnlichen Tieren evoziert Assoziationen zu Wald und Natur. Bilder, die jedoch im Kontrast stehen zu den metallenen und maschinellen Details. Befindet sich Arcas Körper hier in einer Auflösung? Der Dampf im Video und der Titel sind als Anspielung auf den Prozess des „Evaporatings“ lesbar, eine Technik, die zum Beispiel in Laboranalysen genutzt wird, um einzelne Proben von Stoffen oder organischem Material zu trocknen und/oder herauszufiltern und für eine Weiterverwendung nutzbar zu machen. Wie kann der organische Körper anders genutzt und in seine Einzelteile aufgelöst werden? Kann mithilfe technologischer Prozesse eine materielle Veränderung des biologischen menschlichen Körpers, wenn nicht sogar dessen völlige Auflösung bzw. Überwindung hergestellt werden?

Die zweite Sequenz, The Birth, wirft Fragen zu Gebärfähigkeit und Reproduktion auf: Welche Körper können gebären, welche Körper sollen gebären? Oder auch: Wie kann der organische Körper für andere Formen der Reproduktion genutzt werden? In dieser Sequenz bleibt nämlich unklar, ob der auf dem Stuhl liegende bewegungslose schwangere Körper über die Schläuche, die an ihm angebracht sind, andere Organismen füttert oder aber sich aus ihnen speist. Die dystopische Ästhetik lässt die Szene eher als Laborexperiment erscheinen, denn als tatsächlichen „Geburtsvorgang“.
Die Materialisierung dessen, was aus dieser Geburt hervorgegangen ist, zeigt sich in der nächsten Sequenz: Venus A. Unverkennbar ist die Anspielung auf des Renaissancegemälde Die Geburt der Venus von Sandro Botticelli. Die römische Göttin Venus wird hier von Arca selbst verkörpert, in der geöffneten Muschel stehend umgeben von Roboterarmen und durch Kabel mit dem Innenleben der Muschel verbunden. Der Narration des Musikvideos folgend, erscheint Arca als Neuinterpretation der Venus, Göttin der Schönheit und der Liebe, ein hybrides Produkt aus Organischem und Technik, das sich selbst erschaffen hat.

Die letzte Szene des Videos zeigt zwei Arcas, die sich im Streitgespräch gegenüberstehen. Eine Visualisierung dessen, was Arca in Bezug auf Identität auch als „self-states“ bezeichnet: ein Aushandlungsmoment von Gegensätzlichkeiten und damit ein Ringen um eine neue Form von Sein, in der jede Position ihren Raum einfordert. Das Video erschafft oxymorone Körperbilder, die eine neue Vorstellung von queerer Identität formulieren. Über den Posthumanismus gelingt es Arca somit einen neuen queeren Körper zu entwerfen. Der organische Körper, oft Aushandlungsort akademischer und aktivistischer Diskurse um Geschlecht und Sexualität, wird in eine digitale Welt verlegt, in der diese Körper produziert werden und ihnen ein visueller Ausdruck verliehen wird.

Transness und Glitches

In Bezug auf Körper spielt „Transness“ eine ausschlaggebende Rolle für Arcas queere Identität. Es gilt dabei Transness nicht zu pathologisieren und transitioning nicht als Antwort auf ein Symptom zu verstehen. In einem Gespräch für das Interview Magazine nutzt Arca den Begriff „Glitch“, um zu erklären, wie sie Transness erfährt und versteht, nämlich als einen „Ausdruck, der von innen heraus entsteht“ / „an expression that comes from within“. Die Verwendung des Begriffs Glitch ist an dieser Stelle besonders interessant. Eigentlich beschreibt Glitch oder glitching ein digitales Störphänomen, meistens auf visueller Ebene. Jedoch findet bei Arca eine Hinwendung zu Glitch als einem produktivem Moment statt, einem inneren Aufbegehren, ausgelöst durch eine vermeintliche Abweichung oder Nichtpassung innerhalb einer Norm. Ein ähnlicher Denkansatz findet sich auch in Legacy Russells Glitch Feminism: A Manifesto wieder. Die Autorin definiert Glitch „[as] an error, a mistake, a failure to function“. Sich diesem hinzugeben oder nachzugehen und als Potential statt als Fehler zu identifizieren, eröffnet neue Denk- und Handlungsräume.

Im Video zu Tracks Mequetrefe, das zusammen mit Carlos Saéz und Kynan Puru Watt produziert wurde, dient Glitch als künstlerisches Mittel, für die Visualisierung fluider Körperkonstellationen, die ineinander übergehen oder miteinander verschmelzen: Arcas Körper metamorphosiert in dem Video und changiert zwischen einzelnen Stadien. Wenn Arca über Glitch als eine „expression that comes from within“ spricht, wird eine Doppeldeutigkeit erkennbar. Einerseits geht es um die eigentliche Definition von Glitch als Fehler, der von Programmierer:innen nicht vorgesehen war und aus dem System selbst heraus entstanden ist. Auf der anderen Seite verwendet Arca den Begriff, um ein Gefühl zu beschreiben, das sie in Verbindung mit ihrer Transness bringt. Ein digitales Phänomen wird dadurch auf eine körperliche Erfahrung übertragen, die von innen heraus entstanden ist und eine Auseinandersetzung mit der eigenen Geschlechtsidentität bewirkt hat. Das Video lässt sich in diesem Kontext wie ein Ausleben von Gefühlszuständen und inneren Neuanordnungen verstehen, die in Arcas digitalem Körper einen Ausdruck finden. Dabei stellt der sich verändernde und neu zusammensetzende Körper keine Suche nach einem finalen Zustand dar, sondern vielmehr eine Sichtbarmachung einzelner Körpervariationen, die Ausdruck einer Entdeckung von Vielfalt innerhalb einer Einheit oder Identität sind, womit wir wieder bei Arcas „self-states“ sind.

Anstatt Glitch als Problem oder Fehler zu markieren und der Fehlerbehebung nachzugehen, entzieht sich Arca in dem Musikvideo zu Mequetrefe dem Korrekturimpuls, der dem (Wieder)Herstellen einer Norm gleichkäme. Im Gegenteil, die Glitches beschreiben ein Potenzial für neue vielseitigere und sich verändernde Vorstellungen von Körper, die es auszuleben gilt, anstatt einen einzigen finalen bzw. fixen Körper zu präsentieren.

Digitale Potenziale

Auf das Entdecken und Ausgestalten von Körper- und Seinszuständen wird in beiden Musikvideos stark fokussiert. Eine weitere Komponente, die in diesem Zusammenhang nicht unausgesprochen bleiben sollte, ist der Themenkomplex rund um „Mutant – Mutation – Mutability.“ Die Idee von Mutant als Identitätskonzept, verweist auf Widersprüche in Bezug auf die binären Vorstellungen von Körper und Geschlecht und erfährt in Arcas künstlerischen Arbeiten durch sich stets transformierende Körper seine Ausgestaltung. „Mutant“ bedeutet bei Arca nicht nur den eigenen Körper zu modifizieren, es beschreibt ebenso eine Community der Möglichkeiten, der Abweichungen, der Anderen und (noch) nicht Sichtbaren. Mithilfe der Modifikation und Veränderung des eigenen physischen Körpers, sowohl durch tatsächliche Prothesen als auch durch die digitale Neugestaltungen, gibt Arca ihren „self-states“ Raum zur Entfaltung, da sie sich in ihre neu produzierten Körper einschreiben. Ganz klar eröffnet sich für Arca in digitalen Sphären das Potenzial sichtbar(er) zu werden, für andere und mit anderen.

Es sollte aber nicht von jenen Sphären oder Räumen als voneinander getrennten ausgegangen werden, da dies die Dichotomie von digitalem Raum und realer Welt reproduzieren würde. Es geht vielmehr darum, das Zusammenwirken beider Welten weiter zu erforschen und sich darin auszuprobieren. Ein solches Erforschen und Ausprobieren ermöglichen die künstlerischen Arbeiten von Arca. Mit diesen gelingt es neue visuelle Welten zu erschaffen in denen ein Körper nicht den Begrenzungen gesellschaftlicher Vorstellungen und Normen unterworfen ist. Essenzialisierende Körperbilder werden hinterfragt, indem das Potential der digitalen Sphären genutzt wird, neue und eigene Bilder zu generieren. Zuletzt vollendete Arca Ende November/Anfang Dezember den KiCk-Zyklus mit vier weiteren Alben, die an vier aufeinanderfolgenden Tagen veröffentlicht wurden, KiCk ii, KiCk iii, KiCk iiii und KiCk iiiii. Die Albumcover sowie einige Musikvideos, die die Alben begleiten, wurden wieder mit Frederik Heyman produziert. Hört sie an. Schaut sie an. Love Arca.