Diese Zeilen handeln von einer der umstrittensten Figuren der jüngeren Literaturgeschichte: Edward Limonow
Ein unschuldiger Griff in eine der unzähligen Kisten mit alten Büchern im Keller vom Stuwerbuch brachte letztens ein abgegriffenes Exemplar von Fuck off, Amerika aus dem Jahr 1980 zum Vorschein. Das trashige Cover und die Empfehlung von Figaro Littéraire am Klappentext („Es ist, als sei Henry Miller in diesem jungen Autor wiederauferstanden“) führten zur atemlosen Lektüre.
Limonow (bürgerlich Eduard Sawenko, sein Künstlername ist abgeleitet vom russischen Wort limonka, umgangssprachlich für Handgranate), damals Mitte dreißig, beschreibt seinen bisherigen Werdegang als (Tage-)Dieb und Untergrundpoet in Charkiw, Moskau und nach seiner Ausweisung aus der UdSSR (mit kurzem Zwischenstopp in Wien!) in New York.
Das liest sich so: „Wenn Sie mittags zwischen eins und drei die Madison Avenue entlangschlendern, versäumen Sie nicht, dort, wo die 55. Straße kreuzt, zu den schmutzigen Fenstern des Hotels Winslow hinaufzusehen. Da oben, im sechzehnten Stock, können Sie mich auf einem der drei Balkone stehen sehen, meist halbnackt, manchmal auch ganz nackt.“
Limonow schildert seinen Alltag, immer auf der Suche nach Abwechslung, immer pleite, verlassen von seiner abgöttisch geliebten Ex-Frau Helena, der er Seite für Seite nachtrauert, was ihn aber nicht im Geringsten davon abhält, sich in immer neue sexuelle Abenteuer mit Männern und Frauen (je gefährlicher, desto besser) zu stürzen. Das spärlich verdiente Geld gibt er ausschließlich für Alkohol, Drogen und schicke Kleidung aus, während sein Unmut über den American Way of Life immer größer wird. Was ihn trotz ständigem Prahlen, Selbstüberschätzung und Machismus sympathisch macht (er lässt keinerlei Zweifel daran, dass der Autor und die Hauptfigur dieselbe Person sind), ist seine klare Kante gegen jeglichen Rassismus, seine unbedingte Solidarität und sein überbordender Enthusiasmus. Sein Größenwahn (das erste, noch in Russland veröffentlichte Buch trägt den Titel Ich, der Nationalheld) wird immer wieder von feiner Selbstironie gebrochen.
Diese scheint er allerdings im Lauf der Jahrzehnte Stück für Stück eingebüßt zu haben. Einer der letzten Sätze des Romans lautet: „Vielleicht werde ich mit einer Gruppe bewaffneter Terroristen verrückt spielen, mit Typen, die genauso dran sind wie ich.“ Nachdem er New York verlassen, hatte, zog es ihn nach Paris, wo er unter anderem auf Emmanuel Carrère Eindruck machte („… bei seiner Ankunft war Limonow der Liebling der kleinen literarischen Welt von Paris – in der ich schüchtern debütierte.“). Carrère kam im Zuge der Ermordung von Anna Politkowskaja im Jahr 2007 nach Moskau, um für eine französische Zeitung zu berichten. Und traf bald wieder auf Limonow, inzwischen selbsternannter Oppositionsführer Russlands. Ursprünglich wollte er nur ein Interview führen, herausgekommen ist eine über 400 Seiten starke Biografie über diesen „Politirren“.
Darin erfährt man die ungeheuerlichsten Dinge, zum Beispiel „sah man ihn unter dem wohlwollenden Blick von Radovan Karadžić, dem Chef der bosnischen Serben und allseits bekannten Kriegsverbrecher, auf das belagerte Sarajevo schießen. Nach diesen Heldentaten kehrte er nach Russland zurück, wo er eine Vereinigung mit dem vielversprechenden Namen Nationabolschewistische Partei gründete.“ Den Krieg bezeichnete Limonow als existenzielles Erlebnis aller großen Autoren. „Kennt ihr diese Melancholie, die einen dazu bringt, eine Maschinenpistole zu nehmen und einfach in die Menge zu ballern?“, fragt er einmal in Fuck off, Amerika. In seinen letzten Lebensjahren wartete er nur so darauf, von Putins Schergen hinter Gitter oder gleich unter die Erde gebracht zu werden. Am 17. März 2020 starb Edward Limonow im Alter von 77 Jahren als freier Mann in Moskau.
Emmanuel Carrère (2012): Limonow. Matthes & Seitz, Berlin. Selbstverständlich erhältlich im Stuwerbuch, Stuwerstraße 42, 1020 Wien.