Normalerweise schaut sich Mahriah Zimmermann Verfahren für prozess.report an, gemeinsam mit MALMOE wirft sie einen Blick auf die Arbeit am Bezirksgericht
Der erste Schreibworkshop in einem Gericht, alles ist durchgeplant – von uns, aber auch vom Gericht selbst. Die Verhandlungstermine sind streng getaktet, für den heutigen Vormittag sind allein sechs Strafprozesse angesetzt. Kurz vor neun Uhr betreten wir das Bezirksgericht. Wäre da nicht die Sicherheitsschleuse am Eingang und die nervös wartenden Personen am Gang, würde man meinen, es wäre ein normaler Bürokomplex.
Bevor das erste Verfahren beginnt, gibt es eine kurze Begrüßung und Einführung des zuständigen Richters zu Ablauf, Delikten und Besonderheiten am Bezirksgericht. Informeller würde es hier ablaufen, selten hätten die Angeklagten juristischen Beistand dabei, weswegen es mehr Anleitungspflichten für die Richter*innen gebe. Es gehe hier vor allem um Vermögensdelikte wie Ladendiebstähle oder kleinere Sachbeschädigungen, Körperverletzungen und Verstöße gegen das Suchtmittelgesetz.
Ich bin gespannt, was uns erwartet, und fühle mich etwas unsicher. Ich konnte im Vorhinein keine Paragrafen nachschlagen, keine Spekulationen anstellen. Ich weiß nicht einmal, welche der sechs Verhandlungen tatsächlich stattfinden werden. Denn es sei hier nicht ungewöhnlich, auch das wird uns erklärt, dass es Probleme mit der Zustellung von Ladungen gebe oder Angeklagte aus anderen Gründen nicht erscheinen würden. In solchen Fällen käme es dann zu polizeilichen Vorführungen. Ich erinnere mich an Verfahren, in denen Personen in Handschellen vorgeführt wurden. Ein Unbehagen steigt in mir auf, für mehr bleibt keine Zeit.
Heute keine Routine
Es ist 9:01 Uhr, es erfolgt der „Aufruf zur Strafsache“, also eine Lautsprecherdurchsage auf dem Gang. Der Verhandlungssaal füllt sich. Der Richter fragt die Personalien der Angeklagten ab, und ich beginne in die Tasten des Laptops zu hauen. Ich will alles mitschreiben, was gesprochen wird, was die Beteiligten tun, wie sie auf uns Beobachter*innen reagieren. Auch will ich festhalten, was nicht gesagt wird. Ziemlich schnell wird mir klar, dass das viel zu viel ist und ich mich nicht auf alles gleichzeitig konzentrieren kann. Ich bin zu sehr damit beschäftigt zu verstehen, was den Angeklagten eigentlich vorgeworfen wird und wer überhaupt alles im Verhandlungssaal sitzt.
Das sind Dinge, die ich sonst vor Prozessbeginn längst recherchiert habe. Grundsätzlich interessiert mich: Wie kam es dazu? Was sind die Lebensumstände der Angeklagten? Welchen politischen Kontext, welche sozialen Umstände gilt es mitzudenken? Wie kam es überhaupt zur Anklage? Und was hat das vorangegangene Ermittlungsverfahren ergeben? Das sind Aspekte, die vor Gericht selten zur Sprache kommen. Hier geht es ja nämlich nur noch darum herauszufinden, inwiefern der Vorwurf gerechtfertigt ist und welches Urteil „angemessen“ ist.
Doch für meine Fragen fehlt jede Zeit, ein Prozess folgt dem anderen. Und das ohne Pausen. Bei Verfahren gegen das Verbotsgesetz weiß ich ganz genau, wann der richtige Zeitpunkt ist, um rauszugehen, eine zu rauchen, mich zu sammeln oder auch einfach nur Dampf abzulassen. Oft bin ich mit weiteren Beobachter*innen da und kann, wenn es mir mal zu viel wird, mit ihnen absprechen, wer weiter mitschreibt. Das funktioniert heute nicht, in den fünf Minuten, die ich mir nehme, um aufs Klo zu gehen, verpasse ich den Anfang des nächsten Prozesses. Ehe ich verstehe, um was er sich dreht, ist er auch schon wieder vertagt.
Dadurch erkenne ich, wie routiniert meine Arbeit als Prozessbeobachterin mittlerweile ist. Auch heute liegt neben mir ein Kodex, in dem ich die gesetzlichen Bestimmungen nachschlagen kann, ich habe mittlerweile Abkürzungen für alle Prozessbeteiligten und weiß, welche einzelnen Phasen der Hauptverhandlung im Schnelldurchlauf durchgespielt werden. Als ein Urteil verkündet wird, bin ich eine der wenigen, die intuitiv aufsteht.
Verzögerungen sind nicht vorgesehen
In Gerichtsverhandlungen ist alles genau geregelt, wer wann reden darf, welche Voraussetzung es für eine außergerichtliche Einigung gibt, aber auch welche Rechte Beschuldigte haben. Hier gibt es im ersten Verfahren einige Verzögerungen, ein Angeklagter verspätet sich, zu Beginn war fälschlicherweise ein Privatbeteiligtenvertreter anwesend, und ein Angeklagter benötigt Übersetzungen durch eine Dolmetscherin. Außerdem steht eine Diversion im Raum, die die Verteidigerin mit ihrem Mandanten in einer extra dafür verhängten Verhandlungspause erörtert. Alles übliche Geschehnisse, doch sie sorgen für Ungeduld beim Richter. Der Richter bittet also darum, dass dem Freigesprochenen außerhalb des Gerichtssaals übersetzt werden soll, was gerade entschieden wurde. Am Gang bekomme ich mit, dass sein Anwalt dies kurz und knapp erledigt. Mich macht das wütend. Das Recht auf „Übersetzungshilfe“ scheint zumindest in diesem Moment ausgesetzt. Auch in der Verhandlung bringt der Verteidiger den Mandanten zum Schweigen. Und das ist etwas, das ich kenne. Aus meinen Prozessbeobachtungen und vielen Gesprächen mit Beschuldigten und ihren Unterstützungsgruppen weiß ich aber auch, dass es ohne Vorbereitung schlicht unmöglich ist zu wissen, wie so ein Gerichtsverfahren abläuft, wann du reden darfst und was diese ganzen juristischen Begriffe eigentlich bedeuten.
Doch zurück zu den nicht geplanten, aber durchaus üblichen Verzögerungen. Auch wir hatten ja in der Vorbereitung des Workshops darauf gesetzt, dass Verhandlungen nicht stattfinden werden. Im Vorhinein scherzten wir noch, was wir machen könnten, falls viele Prozesse ausfallen. Meine Kollegin und ich hatten uns darauf vorbereitet, Fragen zu beantworten und von Arbeit von prozess.report zu erzählen. Wir wollten dem Richter Fragen stellen – also notiere ich mir während der Verhandlungen eine nach der anderen. Doch stellen kann ich keine einzige, denn alle sechs Verhandlungen finden statt, und der Richter ist damit beschäftigt, „die Zeit wieder aufzuholen“. Ich verlasse den Gerichtssaal mit einem bitteren Geschmack: Der Umstand, dass alle Verhandlungen wie geplant stattgefunden haben, hat für Verzögerungen geführt, die einfach nicht vorgesehen waren.