Warum die Frage, ob koloniale Raubkunst zurückgegeben werden sollte, unzulänglich ist und Europa vor der Restitutionsdebatte keine Angst haben sollte. Ein Kommentar.
Man könnte meinen, das Vergangene entferne sich stetig von unserem jetzt, doch zuweilen rückt es ihm auch wieder ganz nah. So wie dieser Tage seine imperiale Vergangenheit dem heutigen Deutschland wieder völlig gegenwärtig ist und die Zeitungen mit Neuigkeiten füllt. Die Bundesrepublik hat im April die Rückgabe der Benin-Bronzen beschlossen, die 1897 durch Plünderungen von britischen Soldaten aus dem Königreich Benin den europäischen Kunstmarkt und von dort in den Besitz verschiedener nationalstaatlicher Sammlungen gelangten. Emmanuel Macron hatte zuvor bereits im November 2017 die Restitution afrikanischer Kunstwerke versprochen – bisher sind allerdings nur 27 Objekte übergeben worden. Und unter anderen Vorzeichen hat auch Italien im März 2019 etwa 800 historische Gegenstände aus dem chinesischen Raum, die vom Neolithikum bis zur Ming-Dynastie datieren, ausgehändigt. Europas koloniale Aktivitäten und Verbrechen, die sich über den langen Zeitraum von fünf Jahrhunderten erstreckten, sind heute im Rahmen der Frage nach Besitzverhältnissen von historischen Kunstwerken in den Blick gerückt.
Es ist zwar spät, aber längst an der Zeit über die Rückgabe von kolonialer Raubkunst nachzudenken und konkrete Schritte einzuleiten. Eine rechtliche Basis für die Entscheidung der Frage, ob bestimmte Gegenstände zurückgegeben werden sollten, und wenn ja wer der/die rechtmäßige Besitzer:in der Sache ist (wie beispielsweise in Restitutionsprozessen von NS-Raubkunst), kommt wohl nur in den allerwenigsten Fällen in Frage. Dies erschwert die Forderung nach Rückgabe ungemein, denn Besitz ist erster Linie ein rein rechtliches Verhältnis, das von der Frage nach gesellschaftlicher Gerechtigkeit weitgehend entkoppelt ist. Was bleibt, ist die oft moralisierend diskutierte und vollkommen verallgemeinerte Frage, ob Objekte, die im Zuge kolonialer Unternehmungen in den Besitz europäischer Nationen, Institutionen, Privatsammlungen, etc. gelangten, an die Länder im geographischen Bereich ihrer Herkunft zurückgegeben werden sollte. Diese ist jedoch in vielerlei Hinsicht verkürzt, und kann nicht mit einem pauschalen Ja oder Nein beantwortet werden.
Unterschiede zwischen Kronkolonialismus und Imperialismus
Die Grobschlächtigkeit der moralisierenden Entweder-oder-Debatten zeigt sich in ihrer völligen inhaltlichen Indifferenz gegenüber so unterschiedlichen Objekte, wie der sogenannten Federkrone Moctezumas (die Annahme, dass die Krone dem Aztekenherrscher gehörte ist unbelegt) und den Benin-Bronzen, die sich jeweils im Besitz des Wiener Weltmuseums befinden. Beide Objekte weisen eine völlig eigenständige Historie und Provenienz auf. Sowohl die Seite der Kolonialisten, als auch die Seite der Kolonisierten sind kaum vergleichbar. Während der Erwerb der Federkrone Moctezumas auf die Ära des frühen spanischen und portugiesischen Kronkolonialismus zurückgeht, eine Zeit der Politik der Verwandtschaftsbeziehungen und Adelsfamilien, der Gold- und Silbersuche, des großen Einflusses des Jesuitenordens und der abergläubischen Vorstellung über die fabelhaften Wesen, die den Rand der Erdscheibe bewohnen würden, wurden die Benin-Bronzen in der Ära des europäischen Imperialismus erbeutet. In einer Zeit, in der die jungen Nationen mit ihren Kolonialen Territorien neue Rohstoff- und Absatzmärkte erschlossen, sich mit dem Prestige des Besitzes von Kolonien im europäischen Wettbewerb absetzten und mit groß angelegten Plünderungen die eigenen Sammlungen füllen wollten. Während die Federkrone also, die aus dem Besitz der Azteken stammt, deren Dreibund der Stadtstaaten Tenochtitlan, Texcoco und Tlacopan die Gruppen der umliegenden Gebiete durch eine aggressive Militärstrategie unterwarf und Tributzahlungen forderte, entweder als Gastgeschenk an Hernán Cortés oder als militärische Beute in den Besitz der Habsburger und von dort in jenen der Republik Österreich gelangte, wurden die Benin-Bronzen im Rahmen des britischen Kolonialkriegs, der nach der Westafrika Konferenz 1884/5 im Namen des Abolitionismus gegen das sklavenhaltende Königreich Benin geführt wurde, erbeutet. Nach Brandschatzungen des königlichen Palasts in Benin sind sie über den bereits kapitalistischen europäischen Kunstmarkt des späten 19. Jahrhunderts in österreichischen Besitz übergegangen. Man sieht also sofort, dass diese zwei Gegenstände in ihrem historischen Kontext und ihrer Provenienz nur schwer vergleichbar sind. Eine Debatte über die Restitution jener Objekte muss, auch wenn sie moralisch geführt wird, jenen Differenzen Rechnung tragen – womit aber noch lange nicht in Abrede gestellt sein soll, dass man eventuell in beiden Fällen zum Schluss kommt, dass eine Rückgabe an diejenigen Gruppen, die mit der historischen Kultur, die Urheberin der Kunstwerke war, die größten Kontinuitäten aufweisen, der angemessene Umgang ist. Eine abstrakt pauschale Überlegung zur Frage, ob im Zusammenhang kolonialer Unternehmungen erworbene und erbeutete Gegenstände restituiert werden sollen, kann dementsprechend dem jeweiligen historischen Kontext der Objekte nicht ausreichend Rechnung tragen.
Politik der Restitution
Ebenso blind ist die moralisierende Debatte über den heutigen Kontext der jeweiligen Übergaben von kolonial erbeuteten Kunstschätzen. Während die Restitutionsbestrebungen Merkels und Macrons noch einigermaßen vergleichbar sind, steht die jüngste Rückerstattung von 800 Kunstobjekten Italiens an Chinas wie bereits angedeutet unter völlig anderen Vorzeichen. So befanden sich die rückerstatteten Gegenstände nicht im Besitz staatlicher Kunstsammlungen, sondern wurden erst kurz vor der Restitution auf dem Schwarzmarkt gefunden und beschlagnahmt. Sie wurden im Zuge eines hohen Staatsbesuchs vom chinesischen Präsidenten Xi Jinping in Rom übergeben, der im Zusammenhang mit der chinesischen Initiative der neuen Seidenstraße steht. Die Restitution steht im Kontext chinesischer Investitionen im finanziell angeschlagenen Italien, die einen größeren Einfluss und Kontrolle auf die Europäische Union zum Ziel haben. Das Machtgefälle zwischen den beiden Staaten ist also umgekehrt, wie im Fall von Deutschland und Nigeria oder Frankreich und Senegal.
Der Fall zeigt damit auf, dass die Rückgabe von kolonialen Raubgegenständen ein Thema von großer und aktueller außenpolitischer Bedeutsamkeit ist, und damit Machtinteressen und strategischem Kalkül unterliegt. Dies betrifft die Initiativen Deutschlands und Frankreichs nicht weniger als jene Chinas. Die Ansicht, dass die Frage der Restitution in einer von der Realpolitik getrennten moralischen Sphäre schwebt und zu beantworten wäre, ist damit äußerst naiv. Die (zumindest zeitweilige) Verweigerung der Restitution spezifischer Objekte kann also, vom Standpunkt einer außenpolitischen Perspektive aus gesehen, in einzelnen Fällen durchaus sinnvoll sein.
Europa hat die Regeln gemacht
Die Restitutionsfrage behandelt einen langen Zeitraum von 500 Jahren Kolonisation, die in der imperialen Phase, in der Europa zur weltbeherrschenden Macht aufstieg, gipfelte. Dass das neuzeitliche Europa seinen Einfluss am gesamten Globus hinterließ, bestätigen selbst noch die Forderungen nach Restitution, wie beispielsweise diejenige des kongolesischen Aktivisten Mwazulu Diyabanza, der performativ afrikanische Kunstgegenstände mit kolonialer Provenienz aus europäischen Museen entwendet und sich anschließend der Festnahme stellt: „But we have to continue so we can rebuild our own cultural heritage. These are our objects and we want them back.” Die Übernahme von zentralen neuzeitlichen Konzepten wie Eigentum, kulturelles Erbe und Nation (Diyabanza kämpft zwar im Namen von Afrika, viele andere Forderungen gehen aber im Namen von Nationen aus) bestätigt sozusagen ein weiteres Mal die Durchsetzung hegemonialer europäischer Werte und den Export zentraler europäischer Begriffe. Man könnte also leicht provokant formulieren, dass Europa vor der Restitutionsdebatte keine Angst zu haben braucht, weil diese immer schon nach Spielregeln abläuft, die die eigenen europäischen sind.
Kein europäisches Museum wird wegen der Rückgabe von geraubten Kunstobjekten zugrunde gehen – schon gar kein staatlich geführtes. Die Frage sollte also vielmehr sein, ob Europa aus den Fehlern und den gewaltsamen Entgleisungen unter dem Banner des Nationalismus und im Rahmen des kolonialen Unternehmens gelernt hat und seinen Vorsprung nützen kann, um nun dem Spiel neue und bessere Regeln zu geben. Die Restitution ist damit in erster Linie eine Chance neue Relationen zu anderen außereuropäischen Staaten, Kulturen, Gruppen zu etablieren. Dies ist nicht zuletzt die zentrale Funktion von kulturell bedeutsamen Gegenständen: Sie vermitteln Relationen zwischen Individuen und Gruppen. Die Bronzen von Benin haben einst als Zierde der Fassade des Königspalastes die hierarchische Relation zwischen dem Oba, dem gottgewollten König, und seinen Untertanen symbolisiert. In den Museen des 19. Jahrhunderts ermöglichten sie den Europäern ihr Überlegenheitsgefühl, dass sich aus der eigenen Hochkultur nährte und der vermeintlichen Gewissheit, den Weltgeist zur Vollendung seiner selbst gebracht zu haben. Jetzt können die Benin-Bronzen eine neue Relation zwischen europäischen und afrikanischen Staaten jenseits von imperialistischer und nationalistischer Herrschaft vermitteln. Vielleicht sollte man also gleich vorschlagen, dass auch europäische Kunstschätze regelmäßig in den Museen Nigerias gezeigt werden.