Postkoloniale Unterwerfungsfantasien in Videospielen
Freiheit, beschwört die liberale Demokratie sie auch als ihren Dreh- und Angelpunkt herauf, ist im Kapitalismus letztlich eine Frage des ökonomischen Kapitals eines jeden Individuums und dessen Zugehörigkeit zu einer jeweiligen sozialen Klasse. So heißt es bei Marcel Gauchet im Hinblick auf den Neoliberalismus: „Du kannst dein Leben verändern, aber sonst nichts.“ Soweit, so bekannt. Nun schaffen Videospiele soziale Realität und bieten sich weiters als Werkzeug für ein besseres Verständnis der Konstruktionen ebendieser an.
In den Games verändert sich die digitale Welt mit dem Avatar. Das Subjekt des Avatars ist der game changer, der Ordnung in die Welt bringt. Er ist hier „to set it right“. Zu Beginn noch ist die Karte der Spielwelt verdunkelt und Feinde lauern überall. Der Avatar ist klein und die Welt übermächtig. Das Meta-Narrativ eines fast jedes Spiels ist ein expansionistisches – und zwar ungeachtet des Genres: Die Welt wird durch den Akt des Spielens beherrscht. Die Map ist dazu da, von den Spielenden entdeckt und unterworfen zu werden. Selbst das mächtigste Monster ist so programmiert, dass es von den Spielenden bezwungen werden kann, die zum Ende hin dann zu Herrscher:innen über die Welt geworden sind. Der Fog of War ist restlos aufgeklärt. Die Indigenen der Welt, die Nicht-spielbaren-Charaktere (NPCs), sind entweder ausgemerzt oder kolonisiert, das heißt, sie kämpfen für den Avatar, ernten für ihn oder reichern durch Handel seinen Wohlstand an. Fast jedem Mainstreamspiel liegt eine Dominanzfantasie zugrunde, die sich je nach Genre kolonial, imperial, kapitalistisch, subjektivistisch – und in den meisten Fällen noch dazu moralisch – auflädt.
Explore, Expand, Exploit, Exterminate
Kein Genre äußert diese Weltunterwerfungsfantasien so deutlich wie das Strategiespiel. In der Civilization-Reihe, die das Subgenre der 4X Strategiespiele begründete (nach den vier Grundkonzepten Explore, Expand, Exploit, Exterminate), ist eine expansionistische Logik dem Grundgedanken des Spiels eingeschrieben. Am Anfang der Geschichte – 4000 BC – startet hier die Spieler:in in der Vorzeit, umgeben von einer unaufgedeckten, rätselhaften Welt. Zunächst noch verloren im Dunkel der Umgebung, die vor gefährlichen Tieren wimmelt, ist die Spieler:in von Beginn an damit befasst, sich die Welt untertan zu machen, den Test of Time gegen die anderen Zivilisationen zu bestehen und bis zum Ende der Geschichte als Weltenherrscher:in dazustehen. Der Avatar ist dabei keine Einzelperson, sondern ein ganzes Reich, eine Gesellschaft, ein Staat, unvereinbar und unvermischbar getrennt von anderen Staaten und Kulturen, mit denen er im Wettstreit liegt. Es ist eine spielbare Adaption von Samuel Huntingtons Clash of Civilisations: die Welt als Schlachtfeld verschiedener „Kulturen“, die in einem epochalen und unausweichlichen Wettstreit um die globale Hegemonie verstrickt sind. Außerhalb dieses kulturimperialen Ringkampfs steht das außerzivilisatorische Andere: die Barbaren. Sie nehmen an der Punktewertung nicht Teil, können das Spiel also nicht gewinnen, sondern agieren als reiner Störfaktor. Verhandlungen sind mit ihnen unmöglich, zu einer Zivilisation können sie niemals werden und der technologische Fortschritt bleibt ihnen verwehrt. Der Determinismus des Spiels sieht für die Wilden nur ihre Ausrottung und Tilgung vom Erdenrund vor, die im Spielfortschritt aufgrund der technologischen Überlegenheit der sogenannten Zivilisationen zwangsweise eintritt.
Convenience & Sklaverei?
Nicht nur strukturell, sondern im historischen Sinne setzt sich die Aufbau-Spielereihe Anno (Ubisoft Blue Byte) mit der Kolonisierung und späteren Industrialisierung der sogenannten Neuen Welt auseinander, imaginiert die Unterjochung des Kontinents dabei aber als freie Marktwirtschaft.
Den Menschenhandel als Rückgrat der imperialen Wirtschaft des 18. und 19. Jahrhunderts blendet Anno dabei völlig aus, denn dieser würde – so Creative Director Dirk Riegert – Spielende „auf einen Weg zwingen, wo man sich unwohl fühlt“. Hat dieser Entschluss zwar für Kritik gesorgt, war er freilich absehbar. Schließlich kennt man die Marketinglogiken hinter den Blockbustertiteln, die sich in den Schüben des Profitfiebers mehr als Teil einer politikfreien Wellnessindustrie denn als kulturbildend missverstehen. Und doch lässt sich aus dem Verzicht auf die Darstellung der Sklaverei etwas lernen: Anno interpretiert die Besetzung fremder Länder im Sinne einer kapitalistischen Fortschrittserzählung. Indigene Völker, die schon vor der Ankunft der Spieler:in Inseln der Spielekarte bewohnten, fungieren zunächst als Handelspartner:innen für exotische Ressourcen. Auch im späteren Spielverlauf, wenn der Bedarf dieser Ressourcen die Kapazitäten des Handels überschreitet, folgt kein Genozid. Stattdessen bevölkern die Spielenden neue Inseln mit ihren eigenen Kolonien aus indigenen Untertanen, die sich in Textur, Produktion und Bedarf von den Europäer:innen unterscheiden. So kann die Spieler:in, je nach Klimazone, indigene Kulturen erschaffen, die nicht unterjocht werden müssen, sondern ihr automatisch untertänig sind. Krieg existiert – von Scharmützeln mit Piraten abgesehen – lediglich zwischen den europäischen Kontrahent:innen, die sich auf Augenhöhe begegnen. Interaktionen mit indigenen Völkern hingegen geschehen friedfertig und im Interesse beidseitigen Wachstums, die anschwellende Macht der Spieler:innen stößt hier auf keinen Widerstand.
Dass diese Darstellung möglich und anscheinend auch in den Augen der Kritiker:innen überwiegend unproblematisch ist, jedoch die Abwesenheit von Sklaverei ebenjene Kritiker:innen auf den Plan rief, verdeutlicht den hegemonialen Status des expansionistischen Kapitalismus. Dieser wird als bestmögliches System begriffen und in dieser Rolle durch das Spiel bestätigt. Dies geschieht jedoch anhand der Erzählung einer geschichtlichen Ära, in der Kapitalismus, Kolonialismus und Sklaverei gemeinsam gedacht werden müssen. Letztere bleibt dennoch ausgeblendet, weil sie nicht vereinbar ist mit dem liberalen Konsens, der den Kapitalismus als Fortschrittsformel legitimiert. Die Sklaverei wird damit zum Spaltpunkt, zum Auslöser eines zwiespältigen Blicks auf die Geschichte, der die gewaltsame Ausbeutung leugnet, aber ihre Früchte zelebriert.
Not human at all
Auch im Action Adventure Genre wird eine quasi koloniale Grunderzählung bedient: In Assassins Creed: Odyssey (Ubisoft) bekriegen die Spielenden die Töchter der Artemis, die in ausschließlich von Frauen bewohnten Siedlungen als norm-schöne Kriegerinnen in Pelz- und Lederrüstungen gemeinsam mit wilden Tieren hausen. Der zivilisierende Greco-Avatar (wahlweise männlich oder weiblich) bestürmt brutal die indigenen „Wilden“, die eins sind mit der sie umgebenden Natur, denn diese schützen „ihre“ Wälder gewaltsam vor den Bauern und schänden die Heiligtümer der griechischen Bevölkerung. Die griechische Antike, die nicht nur den Kolonialismus, sondern auch die Dichotomie zwischen Zivilisation und Barbarei definierte, ist die Folie für eine weiße, unegalititäre Demokratie aus besitzenden Männern, die sich Sklaven halten.
Die Spielenden, die als unternehmerisches Selbst ihre Beute und ihren Wohlstand micromanagen, befinden sich in einem extreme capitalist media (Soraya Murray). Ubisoft – eine der größten Zeitgenössischen Spieleschmieden – thematisiert in den verschiedenen Teilen der Assassins Creed-Reihe mehrmals die Anfänge des Kapitalismus in der Ära der großen Kolonien und danach. Über dessen Entstehung schreibt Jason Moore: „Capitalism was built on excluding most humans from Humanity— indigenous peoples, enslaved Africans, nearly all women, and even many white-skinned men (Slavs, Jews, the Irish).“
Aus der Perspektive des Kolonialismus seien diese Menschen nach Moore „not human at all“. Denn sie wären als Teil der Natur zu betrachten, gemeinsam mit Bäumen, der Erde und den Flüssen, und als solche wären sie zu behandeln. Das entmenschlichende Prinzip der essentialistischen Naturalisierung wurde auf alles angewandt, was unbezahlte Arbeit leisten musste oder dem Wohlstand zu entnehmen war. Dazu gehörten auch Frauen und das ihnen angedichtete „weiblich-natürliche Prinzip“. Die Töchter der Artemis und auch die „Brutes“ („Wilde“) in ihren Fellkostümen besitzen Schätze, die vom Avatar aus primitiven Behausungen gehoben werden wollen. Sie machen die Spielenden wohlhabend und verleihen ihnen Stärke. Denn sie sind das „Herrenvolk“, das sich in den open worlds die eigene und die vermeintliche Freiheit der Geknechteten erkämpft. Damit bilden Mainstreamspiele wie jene von Ubisoft den gegenwärtigen Konsens ab. Im Sinne des globalen Ungleichheitsregimes des kapitalistischen Liberalismus wird gerechtfertigt, sich gewaltsam über jene zu heben, die durch ihre „natürliche Wildheit“ nicht Teil eines egalitären, demokratischen Systems sein können. Viele Mainstream-Videospiele, die unsere soziale Realität abbilden, übernehmen diesen Widerspruch und machen ihn spielbar.
White Saviour
In der Far Cry-Serie (Ubisoft) verschlägt es die Spielenden in abgeschottete exotische Länder, in denen die Lokalbevölkerung unter der Willkürherrschaft charismatischer Bösewichte leidet. Beflügelt von den Erlöserfloskeln des überwiegend als esoterische Ortskraft dargestellten Widerstands, treten die Spielenden als White Saviour auf den Plan und befreien das Land nahezu im Alleingang.
Eine interessante Wendung erfährt diese Trope im dritten Teil der Serie, in dem die Spielenden als männlicher Avatar Jason an der Seite der indigenen Rebellenführerin Citra um die Vorherrschaft über ein tropisches Inselparadies kämpfen. Nachdem Jason stundenlang mit dem Versprechen benebelt wurde, der Schlüssel zum Sieg des Widerstands zu sein, überredet ihn Citra, seine eigenen Freunde zu ermorden, mit denen er als Spaßtourist auf die Urwaldinsel gelangt war, und sich damit völlig von seinem alten Leben loszusagen. Willigen die Spielenden ein, kommt es zu einer expliziten Sexszene. Citra schläft mit Jason, nennt ihn während des Geschlechtsaktes „die Krönung seiner Art“, schlitzt ihn jedoch nach seinem Orgasmus mit einem Dolch auf und erklärt: „So stirbt ein Krieger auch wie ein Krieger“. Diese Wendung ist ambivalent zu lesen. Für die Spieler:in ist diese Opfergabe ein Triumph, man stirbt als siegreicher Eroberer und das Abenteuer endet in der Vereinigung mit der „Wilden“. „Tribales Feuer“ und „weißes Heldenblut“ vereinigen sich, kommentiert durch die Einblendung „You won“. Gleichsam aber kann dieses Ende auch als Bruch mit der Erzählung des weißen Retters Jason gelesen werden, der so sehr bereit ist, seiner verblödeten Erlöserfantasie nachzugehen, dass er dafür seine Freunde tötet und ihm dabei doch entgeht, dass sich seine Auserwähltheit auf eine Rolle als Opfer im tribalistischen Ritual beschränkt. Dabei schreit aus dieser Szene ein Essentialismus der White Saviour Erzählung: Jasons Versuch, den „Wilden“ zu helfen, fällt ihm schlussendlich auf den Kopf, weil diese unveränderliche menschenopfernde Barbaren sind. Zivilisation und Barbarei sind und bleiben eben unvereinbar.
Dass Krieg und Gewalt im Zauberkreis des Spieles verhandelt werden sollen und nicht außerhalb, dient zur kulturellen Einhegung destruktiver Elemente von Gesellschaften.
Ob geschichtlich tradierte Bedürfnisse von Eroberung und Dominanz in diesen Räumen miteingeschlossen werden sollen, weil es sie gibt, oder weil diese Bedürfnisse erzeugt und wirtschaftlich ausgebeutet werden, muss noch erschlossen werden. Dennoch soll ein Bruch mit kolonialen Erzählhegemonien und ein informierter, reflektierter Umgang, vor allem mit den größten Verbrechen, eingefordert werden, gerade weil Videospiele Wissen und Ideologien vermitteln. Dass dabei die horror twins Kapitalismus und Kolonialismus gemeinsam gedacht werden müssen, gilt es zu erkämpfen.