Über das Ausstellen politischer Kunst abseits der Großstadt
Weit weg von Wien liegt Vorarlberg. Das Bundesland, das 1919 lieber zur Schweiz gehören wollte (und nicht durfte) und durch einen hohen Berg (den Arlberg) auch tausend Jahre zuvor nichts von der zweiten Lautverschiebung mitbekam, ist eine landschaftlich enorm schöne Gegend, in der die Bewohner*innen inzwischen eine Mischung aus Schwäbisch, Schweizerdeutsch und Nuscheln sprechen. Im äußersten Westen Vorarlbergs wiederum liegt Lustenau, ein Grenzort am Rhein. Bekannt ist es für seine maschinenbestickten Stoffe, die in den 1960er bis 1980er Jahren Weltrang hatten (heute etwas weniger Weltrang), eine jahrhundertelange Geschichte des Schmuggels in alle Himmelsrichtungen (aber vor allem in Richtung der Eidgenoss*innen am anderen Flussufer) und die sogenannte Vokaltriangulation – die Fähigkeit, drei Vokale in einem Wort zu einem kaugummizähen Laut zu formen. Nach Wien leben in Vorarlberg die größten Communities türkisch und kurdischsprachiger Menschen in Österreich, die als Gastarbeiter*innen für die Textilindustrie kamen und blieben.
In diesem ländlichen, doch recht zersiedelten (aber sehr ordentlich gekehrten) Umfeld wirkt ein Kunstraum mit klassischem White Cube und programmatischer Ausrichtung auf Gegenwartskunst in etwa so angepasst wie ein Kamel im Packeis – und genau darin liegt der Reiz des Ausstellens in der Peripherie der Kunstwelt. An Orten wie diesen kann man sich sicher sein, dass keine einzige Besucher*in kommt, um zu sehen und gesehen zu werden. Fragen nach der Selbstwirksamkeit und der Strahlkraft einer Show können in dieser Umgebung nicht mehr hinter dem selbstreferenziellen Kunstweltschleier versteckt werden. Schafft man keine Zugänglichkeit, bleibt das Publikum schlichtweg aus. Insofern entsteht schnell der Eindruck, dass allein die Tatsache, dass dort etwas gemacht wird, schon etwas macht. Doch dieser Umstand entbindet auch eine ländliche Kunsthalle nicht von der notwendigen Auseinandersetzung mit ihrer Verschränktheit in Machtstrukturen und Prozesse diverser (Un-)sichtbarkeiten.
White White Cube
Umso klarer treten inhaltliche und kuratorische Fragen in den Vordergrund, die im Grunde genommen jede andere Ausstellung an jedem Ort mitgestalten (sollten). This must be my place. The Other is Us. Zur Idee der postmigrantischen Gesellschaft ist eine Gruppenausstellung in Lustenau, in der unter anderem Aspekte der (Un-)Sichtbarmachung durch bestehende und historische Infrastrukturen thematisiert werden. Während in den umliegenden Vorgärten die automatisierten Rasenmähroboter piepsend ihre Runden drehen, wird auf den Wänden und Böden der ehemaligen Räume des Stickereiverbandes, ein Artefakt einer vergangenen Ära, eine weitere Schicht der Historie aufgetragen. In den 1970ern errichtete man auf dem Grundstück der glühenden Nationalsozialistin Stephanie Hollenstein das Stickereizentrum, dann in denselben Räumen einen Kunsttempel für eine (zugegeben gelungen kritisch kommentierte) Aufarbeitung ihrer Hinterlassenschaften. Nach der Raufasertapete und dem Kurzhaarteppich kamen der Gussbeton und die strahlend weißen Neonlampen. Aus dem repräsentativen Epizentrum einer lokalen Wirtschaft wurde so ein Kleinod der Ästhetik. Ihre Strukturen zu denaturalisieren und ihr gesellschaftlich geprägtes Innenleben freizulegen muss die Aufgabe einer Kunstinstitution an einem Ort wie diesem (und eigentlich überall) sein, soll der Kunstraum nicht fortlaufend als distinkter Sonderling wahrgenommen werden.
White ist nicht Nichts
Wer zeigt hier wem ihre Kunst und wozu? Welche Bedeutung kommt dem physischen Ausstellungsort zu in Anbetracht der Geschichte der Sammlungen, Museen und Ausstellungen, die seit jeher auf die Ästhetik bürgerlicher Werte referieren und sie mit all ihren Progressionen und Stagnationen reproduzieren, deren Genealogie sie entstammen? Dass die Wände des White Cube im wahrsten Sinne des Wortes doppelt Weiß sind, wird einmal mehr deutlich, wenn sie versuchsweise dafür instrumentalisiert werden, (post)migrantischen und marginalisierten Wissen eine Plattform zu geben. Als Schnittstellen zwischen tagesaktueller Medienkunstästhetik und kollektiven sowie biografischen Narrationen abseits der hegemonialen Lokalgeschichte fungieren die Arbeiten der sechs Künstler*innen als Brückenschlag zwischen der Erinnerungswelt derer, die schon immer da waren und erzählt haben, denen aber nicht zugehört wurde, und den weißen Wänden, die in nur scheinbarer Unschuld erstrahlen. Der White Cube als Neutrum entlarvt sich zudem (auf dem Land und überall), wie seine gesellschaftspolitische Hautfarbenanalogie, als Schwindel, sobald sich Gegenerzählungen darin ihren Raum nehmen. Der White Cube ist nicht nur nicht leer, sondern vielmehr aktiver Bestandteil einer Gesellschaftserzählung, in der die Überblendung und das Übertünchen des Anderen programmatisch sind. Ihn zu erobern, zu knacken und in die eigene Erzählung einzugliedern ist für (post)migrantische Positionen bis heute ein oft ambivalenter Prozess.
This must be my place. The Other is Us. Zur Idee der postmigrantischen Gesellschaft ist zu sehen im DOCK 20 – Kunstraum und Sammlung Hollenstein bis 24. Oktober 2021. Mit Cana Bilir-Meier, Theo Eshetu, Ezgi Erol, Giorgi Gago Gagoshidze, Donja Nasseri und Abiona Esther Ojo.