Endlich meldet sich die Diagonale zurück: Ihre Fragen danach, wie wir leben wollen, sind dabei aktueller denn je
Das Beste an Sommer-Filmfestivals ist, für einen kleinen Moment der Hitze entfliehen zu können. So auch bei der diesjährigen Diagonale, die aufgrund der unsicheren Pandemielage zu Beginn des Jahres, auf Mitte Juni verlegt wurde. Eigentlich ganz schön. Dort, wo ein paar Wochen zuvor noch Skater:innen polizeilich drangsaliert wurden, hörte man nun einen nächtlich angeheiterten Schwarm kultureller Feingeister, größtenteils angereist aus Wien. Angeblich ist das aber nichts Neues. Neue Filme gab es trotz der bekannten Durststrecke allerdings ausreichend. Auch, wenn einige schon auf dem ein oder anderen Festival zu sehen waren, trafen hier viele das erste Mal auf eine Leinwand und ein richtiges Publikum. Daneben wartete der Spielplan, wie schon die Jahre zuvor, mit historischen Programmen auf, in denen sich eine ganze Reihe aus den Archiven gegrabener Filme fand. Angesichts der allgemeinen Überforderung konnte man dann schon mal vergessen zwischen den Filmen etwas zu essen oder sich die Stadt anzuschauen, während man immer ein wenig verkatert vom Kino zur Teststation und dann wieder zum Kino eilte. Diese seltsam-rastlose Zerrissenheit schien gewissermaßen auch das Festival- Programm beherrscht zu haben.
Verbindungsschwierigkeiten
Auf den ersten Blick dieser Unruhe widersprechend, könnte Pavel Cuzuiocs neuester Film Bitte Warten (2020) wohl unzweifelhaft als eine Persiflage der Gegenwart verstanden werden. Der Regisseur begleitete über Monate hinweg osteuropäische Rundfunktechniker und geriet dabei in die unterschiedlichsten häuslichen Situationen. Ganz gleich wo, ob Ukraine, Rumänien, Moldau, Bulgarien, etc. die Probleme sind überall die gleichen: Das Fernsehen hat schlechten Empfang, das Internet ist zu langsam oder das Telefon hat seinen Geist aufgegeben. Die Techniker sind dabei Protagonisten und Beobachter zu gleich. Auch wenn sich dieser Film in seiner Distanz den Anschein von Lethargie gibt, verbirgt sich dahinter auf den zweiten Blick das ungeduldige Brummen der globalen Telekommunikation.
Immer wieder wurde die Arbeitsweise beziehungsweise der Realismus des Films in Frage gestellt, denn es mag verwundern, wie offen die Menschen vor der Kamera über sich und andere sprechen. So verhandelt der Film zwei unterschiedliche Formen von Kommunikation gleichzeitig: die der Nähe sowie die der Ferne. In beiderlei Hinsicht fungiert sie als politische Öffentlichkeit. Sei es der rumänische Priester, der am Ende des Films eine Predigt über das Telefon improvisiert oder die verstreute, subtile Skepsis gegenüber dem Wahrheitsgehalt von Fernseh-Nachrichten. Cuzuiocs Blick ist gezeichnet von einem ungeschönten Interesse an Menschen, das nicht durch eine aufdringliche Nähe oder therapeutische Offenheit bewältigt werden muss. So schafft er es die Menschen näher zusammenzubringen als es vielleicht ein Kabel könnte, auch wenn sie nicht direkt miteinander sprechen.
Geschichten aus 1220
Das historische Programm Sehnsucht 20/21 – Eine kleine Stadterzählung versuchte diesem Anspruch des Zusammenbringens entgegenzukommen, wenngleich sich das mitunter nicht in der Größe des Publikums ausdrückte. Vielleicht lag es am kryptischen Namen? Das Ziel war es gemeinsam mit dem Österreichischen Filmmuseum, dem Filmarchiv Austria und Ö1 Filme zu kuratieren, welche „Sehnsüchte nach einem Neubeginn verhandeln“. Es fehlt zwar ein entsprechender Hinweis (wohl mit Absicht), jedoch entbehrt allein der Titel des Programms nicht einer gewissen Gegenwartsdiagnostik. Es zeichnet sich darin keine klare Linie ab, vielmehr sprechen die Filme in ihrer Zusammenschau eine ambivalente Sprache. Dokumentarische und fiktionale Arbeiten stehen sich gegenüber, wie etwa Babara Alberts Nordrand (1999) oder Leopold Lummerstorfers Der Traum der bleibt (1997).
Während für das unabhängige, österreichische Kino Nordrand mittlerweile geradezu ein Klassiker geworden ist, geht Der Traum der bleibt im Vergleich dazu eher als Geheimtipp durch. Beide Filme sind in der Peripherie der Metropole angesiedelt, konkret im 22. Wiener Gemeindebezirk. Sie erzählen ähnliche Geschichten, nur von zwei verschiedenen Seiten. Alles kreist um Probleme des Wohnens und Zusammenlebens, die gerade aktueller denn je sind. Albert pflegt eine intime Nähe zu ihren Charakteren einzunehmen. Sie steht immer an der Schwelle zur Identifikation, gerade dann, wenn sich musikalische Traumwelten öffnen. Jene vielleicht, die für Lummerstorfers Film titelgebend waren. Der Traum der bleibt verharrt stattdessen in einer nüchternen, sozialwissenschaftlichen Distanz, die vielleicht ermüdend scheinen mag, aber nicht den abgebildeten Menschen ihre Geschichten abringt, sondern sie zueinander führt. Es entsteht so ein komplexes, zuweilen widersprüchliches Bild.
Hoffen und Scheitern
Als hätte die Lebenswirklichkeit nach einer Utopie gerufen, kündigte sich der neue Film von Johannes Gierlinger Die vergangenen Zukünfte (2021) an. Ausgehend von den Wiener Märzrevolten 1848 spinnt sich eine nachdenkliche Erzählung über Denkmäler, die Rolle der Linken oder Rechten, den Konsum, und so weiter. Gierlingers Essay stürzt sich damit in einen endlosen Strudel voll von Referenzen und Zitaten, bis man irgendwann ein wenig vom Pathos umnebelt den Abspann vor sich sieht. Umgarnt von einem Dialog, der mehr sokratisch als dialektisch ist, reihen sich Momente aneinander, in denen sich der Regisseur auf die Suche nach dem verlorenen revolutionären Augenblick in der Gegenwart begibt.
Der immer wiederkehrende Bezug zu Walter Benjamin lässt hier einen gewissen Idealismus durchscheinen, der wohl Benjamin nicht immer gerecht wird. Es hätte eventuell nicht geschadet, einmal Abstand vom Material und den eigenen Gedanken zu nehmen. Der Film hinterlässt eben jenen romantischen Eindruck der Zerrissenheit, in dem sich utopische Hoffnungen zwar denken lassen, aber nicht realisieren können. Während die Filme des Programms Sehnsucht 20/21 behutsam den Realismus wahren, verliert sich Gierlingers Suche stellenweise im schönen Schein der Bilder. Unruhe wird aber damit nicht aufgehoben, sondern nur in die Luft geschlagen.
Auch wenn die Diagonale in einigen Momenten noch unentschlossen wirkte, hat sie einiges aufgewirbelt, was in den letzten Monaten verstaubte. Nachdenklich aber sehnsüchtig lässt sie so in die Zukunft blicken, wie aus dem Zugfenster von Graz zurück nach Wien.