MALMOE

Es gibt kein richtig 
Gesundes im Kranken

Gestörtes Störendes #20

„Darüber reden wir“ heißt die aktuelle Kampagne der psychosozialen Dienste Wien. Sie hat zum Ziel, das Thema „psychische Erkrankungen“ zu enttabuisieren. Die Rede von „psychischen Erkrankungen“ soll eine Normalisierung bewirken, eine Integration von bestimmten psychischen Reaktionen bzw. Verarbeitungsweisen in den pathologisch-medizinischen Bereich. Zuständig dafür ist federführend die Psychiatrie, flankiert von der klinischen Psychologie und auch Psychotherapie.

Sie alle kümmern sich um den einzelnen Menschen, versuchen die einzelne Person zu verändern, damit die „Krankheit“ oder „Störung“ verschwindet oder erträglicher wird. Die Psychiatrie verschreibt Medikamente, die klinische Psychologie arbeitet klassischerweise mit konkreten lern- oder kognitionspsychologischen Techniken, die Psychotherapie setzt je nach Schule auf andere Schwerpunkte, wie emotionales Erleben, Techniken, Biographie.

Allen gemeinsam ist erstmal ein Desinteresse an Gesellschaftlichkeit. Was meine ich damit: Die fundamentale Bedeutung von Gesellschaft ist ihnen nicht bewusst, sie stehen dieser Tatsache ignorant gegenüber (wie die meisten Menschen). Auf diese Weise ist es auch nicht möglich, die fundamentalen Problematiken unserer Welt radikal zu erfassen. Gesellschaft wird zur Umwelt, die eben so ist, wie sie ist, so wie „die Natur“. So wird der Egoismus zu einer Eigenschaft „des Menschen“, woraus sich dann auch Kapitalismus und Klimawandel achselzuckend „erklären“ lassen. Dass dem nicht so ist, spüren alle. Wir unterscheiden uns nur im Grad der Verdrängung davon. Kooperatives Handeln findet ständig statt, wir wissen und spüren, dass die Durchsetzung unserer Ziele auf Kosten anderer nicht notwendig wäre, dass wir das Potential haben, eine Welt zu schaffen, in welcher der Mensch das Maß der Dinge ist und nicht die Ware und ihr Wert.

Corona und der nun unleugbar spürbare Klimawandel fordern diese unsere Ignoranz heraus, sie schreien uns gewissermaßen ins Gesicht, dass wir endlich aufwachen und unsere Prioritäten hinterfragen, uns unserer kollektiven Gestaltungsfähigkeit voll bewusst werden und uns aufmachen sollen, eine Welt zu schaffen, die jedes Individuum als Mensch respektiert (und nicht als Mittel zum Zweck, wie jetzt).

Gleichzeitig fühlen wir uns allein und überfordert. Alles scheint übermächtig und unaufhaltsam. Mir ist neulich ein Bild gekommen, dass „wir“ wie ein Huhn sind, dem der Kopf abgeschlagen wurde und das aber noch umherrennt. Sein Leben ist vorüber, aber es scheint es nicht akzeptieren zu wollen. So machen wir weiter wie immer, obwohl wir so stark wie nie spüren, dass das nie und nimmer gut gehen kann. Die Selbstfeindschaft, in der jede*r von uns in der kapitalistischen Gesellschaft sich wiederfindet, tritt klarer zutage als vorher. In unserer Ratlosigkeit verdrängen wir diese Einsicht bzw. dieses Gefühl weiter, so wie wir es schon vorher getan haben.

Wir machen weiter in der individuellen Konkurrenz, der Missgunst, dem Neid, dem Ausstechen, dem Austeilen, dem Leistungswahn, der Selbstverachtung. Zur grundlegenden Selbstfeindschaft in der kapitalistischen Gesellschaft, also dem Durchsetzen meiner Ziele auf Kosten anderer, die schon mal eine fruchtbare Basis für zu verdrängende Gefühle der Sinnlosigkeit, Angst und Aggression bildet, gesellen sich dann die jeweiligen biografischen Umstände und Erlebnisse, z.B. bedingte Liebe (je nach Leistung), Traumatisierungen, Instrumentalisierungen (das Kind als „Objekt“ der Eltern), Kränkungen usw.

Hier schließt sich der Kreis. Diese individuell-biografische Ebene wird von Psychiatrie, Psychologie und Psychotherapie behandelt. Das hat noch nie gereicht und tut es jetzt umso weniger. Die Ideologie der Individualisierung muss durchbrochen werden. Es geht nicht um eine „Akzeptanz“ „psychischer Erkrankungen“ oder ihre „Integration“ in das Spektrum menschlicher Erkrankungen. Es geht um das kollektive Sprechen über unsere kranke Gesellschaft. Wie wir individuell damit umgehen, wie wir einzeln unser Leben darin führen, ist nicht krank, sondern entspricht den Umständen. Insofern gibt es im Kranken auch kein richtig Gesundes.