Aus der Reihe: ku. & ko. Das phantastische Geschäft
Neben dem kleinen Park in der Seitenstraße liegt das wohl berühmteste Geschäft der Stadt. „Haben wir nicht, gibt’s nicht“, steht am Schild auf der Tür. Heute ist daneben sorgfältig ein kleiner Aushang befestigt, auf dem ein lakonisches „Heute wegen Klausur geschlossen“ steht.
Konrad vergewissert sich gerade, ob die Eingangstür hinter ihm auch verriegelt ist, wirft einen flüchtigen Blick zum Tresen, an dem Kuna in gleißendem Licht sitzt, und senkt betreten den Kopf. „Tschuldigung, ich bin etwas spät. Die ganzen Baustellen.“
„Nicht so schlimm, das ist der Preis des Fortschritts“, sagt Kuna strahlend und winkt Konrad näher. „Jetzt aber hurtig. Erster Punkt auf der Tagesordnung: Marketing. Da gibt’s noch Luft nach oben. Und ich sehe da eine einzigartige Chance.“
„Chance“, wiederholt Konrad und muss mit Bedauern feststellen, dass weder Kaffee noch Knabbereien zu sehen sind.
„Unser schönes Wien erfährt eine einzigartige Dynamik und wir sind dabei. Und zwar erste Reihe fußfrei“, versetzt Kuna mit einem Zwinkern. Konrad blinzelt etwas betreten in die Deckenlampe und lässt dann seinen Blick über den Tresen schweifen. Hart zeichnen sich zwei Eddingstifte, ein Packen Papier und ein gefaltetes Etwas gegen das gemaserte Holz ab. „Konrad, ich merke schon, du bist noch nicht der Senkrechtstarter, als den wir dich alle kennen“, schmunzelt Kuna und greift zu der Karte, auf der das Wiener Stadtwappen prangt. Vorsichtig faltet Kuna mit spitzen Fingern den im Lampenlicht glänzenden Stadtplan auf, der mit jedem Aufklappen beachtlich an Größe gewinnt. Sie stutzt, neigt den Kopf, um besser lesen zu können, dreht den mächtigen Bogen mehrmals auf dem hölzernen Tresen. „Genau, hier ist die Donau. Und dann hier“, ihr Finger zeichnet den Fluss der Donau nach, bis er abrupt bei den symmetrischen Kügelchen auf dem Plan stoppt, „der Ölhafen Lobau. Konrad, das musst du dir anschauen!“
Konrad macht zwei zögerliche Schritte, stützt sich bedächtig auf Meidling und Simmering und runzelt die Stirn. Die Lobau ragt wie ein kümmerlicher grüner Blinddarmfortsatz in das übermächtige Grau, sinniert Konrad kurz, doch Kunas Zeigefinger bugsiert ihn wieder auf den Plan. „Unten Schwechat mit der Raffinerie und dem Flughafen und drüber die Donaustadt“, Kuna ist nun in ihrem Elan nicht zu bremsen.
„Da war ich so selten“, schaltet sich Konrad ein und mustert die Stadtgrenzenmarkierung, die gleich einer Riesenfurche großflächige Felder und Baugebiet trennt. „Ein Bekannter hat mal dort in der Autofabrik gearbeitet, ‚die Arbeit drüben‘, hat er immer gesagt“, spricht nun Konrad mehr zu sich als zu Kuna, die jedoch sofort vom Stadtplan aufblickt und ihn eingehend mustert. „Mein Großvater konnte in Margareten noch zu Fuß zur Arbeit gehen“, murmelt Konrad und wirkt wieder seltsam entrückt, als würde er in einem vergilbten Fotoalbum blättern.
„Das ist der Punkt, mein lieber Konrad. Hier, mitten in der Stadt, sind wir ja bekannt wie ein bunter Pudel. Doch an der …“
„… Peripherie“, führt Konrad den Gedankengang fort und scheint wieder die Studienbank zu drücken.
„Genau Konrad, an der Peripherie mit Hunderttausenden potenziellen Kunden, da sind wir ja gar nicht bekannt. Und auch dort leben Menschen, die unser Geschäft liebend gerne in Anspruch nehmen würden.“
Konrad nickt. Kuna blickt ihn an. Konrad nickt immer noch. „Mein lieber Konrad. Du hast es immer noch nicht?“ Konrad schüttelt den Kopf. „L-O-B-A-U“, buchstabiert Kuna. „Bei der Lobau wird ein Tunnel gebaut. Und was sind Tunnels?“
„Die schnellste Verbindung zwischen Punkten durch einen Berg oder …“, antworte Konrad.
„Falsch! Es sind potenzielle Werbeflächen. Studien haben ergeben, dass durch den induzierten Verkehr in kaum mehr als fünf Jahren der Tunnel so überlastet sein wird, dass sich die Autos stauen werden, als wär’s der Rückreiseverkehr aus Jesolo. Kannst du mir folgen?“
Konrad war eben etwas eingesackt und richtet sich auf die Verkaufstheke gestützt langsam wieder auf. „Also, die Lobau, das ist ein Naturjuwel, ein Naturschutzgebiet, das selbst Napoleon widerstanden hat, da wird kein Tunnel hineingebaut. Das werden die Menschen niemals zulassen. Lobau, das ist Freiheit! Das ist nackt baden, den Vögeln zufurzen und eine Picknickdecke voller Dosenbier und irgendwo sitzt einer und singt: Hey, Mr. Tambourine Man, und …“
„Konrad, du alter Hippie. Nicht doch, oder hast du heute Morgen geraucht?“, unterbricht ihn Kuna. „Bitte komm, wir sind im 21. Jahrhundert.“
Konrad beugt sich demonstrativ wieder über die Karte, streckt seinen Finger in Richtung Dechantlacke und schnaubt: „Die Lobau wird das Hainfeld des 21. Jahrhunderts. So sieht es aus, meine liebe Kuna, und wenn ich Vizekanzler wäre und nichts zu sagen hätte, dann würde ich diesem Tunnel nur unter Protest zustimmen. Jawohl!“ Nun steht Konrad da, die Beine leicht gespreizt, standhaft, die Arme verschränkt und den Blick herausfordernd auf Kuna gerichtet.
„Mein lieber Konrad“, redet Kuna zärtlich auf ihn ein. „Du hast mich vollkommen missverstanden. Es sei dir und deinen Freunden unbenommen, eure Nacktheit in der üppigen Naturpracht der Lobau zur Schau zu stellen. Aber der Tunnel geht unten durch, alles bleibt erhalten und bestehen – und das Gute ist, die Zukunft kann währenddessen endlich wieder Fahrt aufnehmen. Elektromobilität ist das Schlagwort. Und in meinen Visionen muss ein Tunnel kein Widerspruch zu einer Klimakrise sein. Ich frage dich: Warum kann es dort keine Begegnungszone geben? Wer sagt, dass ein Tunnel nur für Autos und LKWs sein muss? Warum nicht für Fahrradfahrerinnen und Fußgänger? Warum kann bei den Seitenbuchten nicht ein Kunstrasen ausgelegt werden, mit Pop-up-Sitzgelegenheiten, von uns aufgestellten Getränkeautomaten, und aus den Boxen hallt die feinste Chillout-Musik? Muss ein Tunnel grau sein? Kann er nicht gelbe Seitenstreifen haben und eine hellblaue Decke mit weißen Wolken drauf? Und warum können dort nicht alle paar Meter Plakate mit unserer Aktionsware hängen? Und wenn sich die Fahrzeuge am Morgen und Abend durchstauen, laufen ein paar Studis mit einem Bauchladen durch die Reihen und verscherbeln unseren Ramsch. Da ist allen geholfen! Der Natur, die ungestört bleiben kann, den Menschen, dem freien Markt und selbst den Tieren, denn es gibt im Tunnel nur vegane Snacks zu kaufen. Denn das Wichtigste ist, dass den Menschen immer und immer wieder bewusst wird: Als Kunde gibt es keine andere Alternative zur Zukunft als unsere. Genau das müssen die Menschen spüren.“ Kuna umgreift sanft Konrads verschränkte Arme, öffnet sie und drückt sie behutsam nach oben, bis sie ein riesiges V wie Victory ergeben. „Verstehst du mich jetzt, Konrad?“