Über zehn Jahre wohnungspolitischen Kampf in der Stadt
Am 26. September haben Berliner:innen die Gelegenheit über einen Volksentscheid abzustimmen, der die Eigentumsverhältnisse in der Stadt grundlegend verändern und den Renditeträumen internationaler Investor:innen ein jähes Ende setzen könnte. Das Ziel des Volksentscheids: Die Wohnungsbestände mehrerer großer, meist börsennotierter Wohnungskonzerne in Gemeineigentum zu überführen – oder kürzer gesagt: zu vergesellschaften. Konkret geht es um etwa 240.000 Wohnungen, etwas über ein Zehntel aller Mietwohnungen in Berlin, die so dauerhaft der Spekulation und dem Renditedruck entzogen werden sollen.
Der Volksentscheid geht auf die Initiative Deutsche Wohnen & Co. enteignen zurück, die sich um das Jahr 2017 im Umfeld einiger Mieter:inneninitiativen gebildet und schon bald darauf die wohnungspolitische Debatte in der Stadt entscheidend beeinflusst hat. Ungeachtet des Ergebnisses der Abstimmung kann man die Geschichte der Initiative daher schon heute als für Berlin beispiellosen Erfolg linker Bewegungspolitik bezeichnen. Wie ist es dazu gekommen?
Die eher menschenunfreundlichen Naturgesetze des Wohnungsmarkts
Es ist alles andere als eine Selbstverständlichkeit unter den gegenwärtigen ideologischen Verhältnissen in Mitteleuropa die Enteignung börsennotierter Wohnungsunternehmen zu debattieren. Dass diese Forderung bis ins bürgerliche Spektrum Unterstützer:innen gefunden hat und es sogar eine realistische Chance gibt, eine Mehrheit dafür zu gewinnen, ist allerdings nicht allein der Raffinesse linker Agitation zu verdanken.
Berlin ist deutschlandweit die Stadt mit der niedrigsten Eigentümerquote, die meisten Berliner:innen leben zur Miete. Und die steigt seit zehn Jahren drastisch. Lag der durchschnittliche Angebotspreis 2010 noch bei 5,90 Euro je Quadratmeter, so stieg er bis 2020 auf 12,20 Euro – in einzelnen Stadtteilen ist die prozentuale Steigerung noch deutlich schlimmer. Es braucht nicht viel Fantasie, um sich auszumalen, was das für Menschen mit mittlerem und niedrigem Einkommen bedeutet, deren Löhne in dieser Zeit kaum gestiegen sind: Während die Ersteren einen immer größeren Anteil ihres Einkommens für Miete ausgeben, werden Zweitere nach und nach aus ihren angestammten Wohngegenden verdrängt. Die Zahl der Zwangsräumungen ist dementsprechend in Berlin auch seit Jahren konstant hoch, 2019 etwa gab es im Schnitt 45 Zwangsräumungen pro Tag. In Wien sind es im Vergleich sieben.
Für den liberalen Durchschnittsverstand stellt sich diese Entwicklung als mehr oder weniger gottgegeben dar: Wo Angebotsknappheit herrscht, steigen Preise. Weil das wie ein Naturgesetz erscheint, stellt sich einfühlsamen Marktversteher:innen naturgemäß auch nicht mehr die Frage nach Verantwortlichen. Aber natürlich gibt es sie. Zum einen sind da politisch Verantwortliche, die durch historische Fehlentscheidungen große Teile des Berliner Wohnraums dem sogenannten „freien“ Markt überhaupt erst überlassen haben, zum anderen finanzstarke Investor:innen und Unternehmen, die auf eben diese Knappheit spekuliert haben, um aus ihr Profit zu schlagen.
Der Ausverkauf der Stadt und der Aufstieg von Deutsche Wohnen & Co.
Kann es heute noch jemanden wundern, dass der Ausverkauf der Stadt in Form von Privatisierungen großer kommunaler Wohnungsbestände Anfang der 2000er Jahre unter die Ägide eines rot-roten Senats fiel? Eigentlich nicht, denn schließlich trieb zeitgleich die rot-grüne Koalition auf Bundesebene als Agentin des neoliberalen Zeitgeistes den Abbau des Sozialstaates und die Entsolidarisierung der Gesellschaft frohen Mutes voran. Federführend beim Verscherbeln der kommunalen Wohnungsbestände Berlins war neben dem damaligen Bürgermeister Klaus Wowereit übrigens der später vor allem durch seine rassistischen Welterklärungsmodelle bekannt gewordene SPD-Finanzsenator Thilo Sarrazin.
Ein wesentlicher Anteil am ehemals kommunalen Wohnungsbestand landete – teilweise direkt, teilweise über Umwege – bei der 1998 von der Deutschen Bank gegründeten und seit 2006 unabhängigen und börsennotierten Wohnungsgesellschaft Deutsche Wohnen. Deren Geschäftsmodell kann man für die 2010er Jahre in Berlin als stilprägend bezeichnen: Regelmäßige Mieterhöhungen bis zur gesetzlichen Grenze (neben juristischen Versuchen, diese Grenzen anzufechten), Erhöhung von Nebenkosten bei gleichzeitiger Reduzierung aller Wartungs- und Instandhaltungsarbeiten, dafür jedoch die Umsetzung möglichst vieler unsinniger Modernisierungen, die sich auf die Miete umlegen lassen. Wohin das am Ende – abseits von maroden Häusers – geführt hat? Selbstverständlich – wohin auch sonst – in den DAX. Im Juni 2020, also mitten in der Pandemie, ersetzte die Deutsche Wohnen die angeschlagene Lufthansa im wichtigsten deutschen Aktienindex. An Dividenden an ihre Aktionär:innen ausgeschüttet hat die Deutsche Wohnen für das Pandemie-Jahr 2020 insgesamt etwa 354 Millionen Euro. Gewohnt werden muss schließlich immer.
Deutsche Wohnen entwickelte sich während der 2010er zum sowohl größten privaten Wohnungsvermieter in Berlin, als auch zum meistgehassten. Aber es war und bleibt ein Kopf-an-Kopf-Rennen. Andere größere und auch kleinere Wohnungsunternehmen, wie Vonovia, Akelius, und die Adler Group (vor kurzem noch ADO) setzen auf die im Wesentlichen gleichen Strategien. Ob es sich bei diesen Unternehmen um Wohnungsunternehmen im eigentlichen Sinn handelt, ist indes fraglich. Denn die meisten sind, wie ein von der Linken-Fraktion im Bundestag beauftragtes Gutachten über Vonovia darlegte, im Grunde „Finanzinvestor(en) mit angeschlossener Immobilienwirtschaft“. So fällt ihr Aufstieg keineswegs zufällig in die Jahre nach der Finanzkrise von 2007/2008. Angesichts der damals fallenden Aktienkurse, der Verunsicherung über die Solidität von Staatsanleihen und Inflationsangst, drängten scharenweise private und institutionelle Anleger:innen auf den deutschen Immobilienmarkt, der als besonders krisensicher galt. Ironischerweise also setzte die 2007 geplatzte Immobilienblase, die vor allem die USA, aber auch Spanien betraf, einen zwar anders gearteten, aber nicht weniger gesellschaftsbedrohenden Immobilienboom in anderen Weltgegenden in Gang.
Die sogenannten „Wohnungsunternehmen“ ähneln sich aber nicht nur in ihren Geschäftsstrategien in der Wohnungsbewirtschaftung und im Verlauf ihrer Expansionsgeschichte – wenig überraschend sind auch ihre Anleger:innen oft dieselben. Die US-amerikanische Investmentgesellschaft BlackRock etwa, der größte Vermögensverwalter der Welt, ist gleich an den fünf größten deutschen Wohnungsunternehmen beteiligt – bei Vonovia und Deutsche Wohnen sogar als größter Aktionär. Wem diese Konzerne in letzter Konsequenz also Rechenschaft schuldig sind und in wessen Interesse sie handeln müssen, ist alles andere als ein gut gehütetes Geheimnis.
Widerstand überall
Es ist bemerkenswert und wichtig in Erinnerung zu behalten, in welchem Kontext sich der Widerstand gegen die Gentrifizierungswelle der 2010er, der in der Enteignungskampagne mündete, zuerst formierte. Die Forderung Deutsche Wohnen zu enteignen, wurde zum ersten Mal auf Protesten von Mietaktivist:innen der Initiative Kotti und Co. laut. Kotti und Co. ist eine Mieter:innengemeinschaft, die sich 2011 am Kottbusser Tor in Kreuzberg gebildet hat. Auslöser für die damalige Organisierung und die folgenden Proteste war das faktische Ende des sozialen Wohnungsbaus in Berlin in den 2000ern, das die ersten größeren Verdrängungen nach sich zog. Bemerkenswert ist dieser Kontext deshalb, weil die Kämpfe, die Kotti und Co. seither gegen Mieterhöhungen und Gentrifizierung in Kreuzberg führt, einerseits migrantisch geprägt sind und den Kampf gegen rassistische Diskriminierungen im Wohnungsmarkt und in der Wohnungspolitik immer schon miteinschlossen. Zum anderen gehörten Ideen der Selbstorganisation und die Forderung nach Mitbestimmung durch Mieter:innen von Beginn an zum Selbstverständnis der Kotti-Aktivist:innen. Es ging immer schon um mehr als nur die Höhe der Miete.
Kotti und Co. war selbstverständlich nicht die einzige Mieter:innengemeinschaft, die sich in den 2010ern für das Recht auf Stadt, gegen Verdrängung und Gentrifizierung einsetzte. Unter dem zunehmenden Druck der renditeorientierten Wohnraumverwertung formierten und gründeten sich über die letzten zehn bis fünfzehn Jahre zahlreiche Initiativen, Bündnisse und Gruppen: lokale Hausgemeinschaften, die sich gegen den Verkauf ihrer Häuser an Investor:innen wehrten, kritische Mieter:innenvernetzungen, die die Geschäftspraktiken einzelner Wohnungskonzerne öffentlich machten und angriffen, Bündnisse gegen Zwangsräumungen und Verdrängung, Nachbarschaftsinitiativen, Mieter:innengewerkschaften und -syndikate. Dem lautstarken und anhaltenden Protest all dieser Initiativen und Aktivist:innen ist es zu verdanken, dass sich in weiten Teilen der Stadt und durch alle Schichten hindurch ein zunehmendes Unrechtsbewusstsein über die wohn- und mietenpolitischen Verhältnisse verbreitete.
Die Interessen der Aktionär:innen werden nie die Interessen der Mieter:innen sein
Einige Erfolge wurden hier und da zwar auch erkämpft – wie etwa die Ausweitung von Milieuschutzgebieten, die es Eigentümer:innen schwerer machen, Modernsierungen durchzuführen, die allein Mieterhöhungszwecken dienen – aber alle Versuche an die „soziale Verantwortung“ der Wohnungskonzerne zu appellieren, sind ein ums andere Mal gescheitert. Die Interessen der Aktionär:innen werden nie die Interessen der Mieter:innen sein, so viel steht nach über zehn Jahren Kampf gegen die als Wohnungsunternehmen verkleideten Investor:innengesellschaften fest. Auf dieser Erkenntnis begründet sich die Initiative Deutsche Wohnen und Co. enteignen.
Die zentrale Forderung der Initiative nach Vergesellschaftung ist durch den Artikel 15 des deutschen Grundgesetzes gestützt. Darin ist das Recht „Grund und Boden, Naturschätze und Produktionsmittel“ zu vergesellschaften festgehalten – durch ein Gesetz, das „Art und Ausmaß der Entschädigung regelt“. Dieser Artikel ist ein Relikt aus der Nachkriegszeit, als die SPD sich von sozialistischen Ideen noch nicht vollends verabschiedet hatte. In der Geschichte der BRD wurde er noch nie angewandt. Es ist daher leicht vorstellbar, wie die Forderung nach seiner Anwendung die besitzende Klasse und alle anderen, die sich aus unerfindlichen Gründen mit ihr identifizieren oder mit ihren Interessen gemein machen, in Aufregung versetzt hat. Entsprechend malten die kapitalnahen Parteien von FDP über CDU/CSU bis zur SPD seit Ende Juni – nachdem die Initiative genügend Unterschriften gesammelt hatte, um den Volksentscheid einzuleiten – verschiedene Untergangsszenarien aus, die Berlin im Fall der Vergesellschaftung bevorstünden.
Wie sich herausstellt, ist es aber gar nicht so einfach, die Aussicht auf mehr kommunalen Wohnraum als existentielle Bedrohung darzustellen. Nach den jüngsten Umfragen zumindest hat sich seit Juni nichts Wesentliches geändert: Etwa die Hälfte der Berliner:innen befürworten die Vergesellschaftung seit längerer Zeit konstant. Dafür, dass es mehr werden, ziehen seit Monaten über tausend in der Kampagne Aktive unermüdlich durch Berlin, machen Kundgebungen und Demonstrationen, flyern und führen Haustürgespräche. Was am 26. September auf dem Spiel steht, ist ihnen bewusst: Das Recht auf Stadt. Für alle.