Wie die kapitalistische Logik selbst in der Pandemie einen Konkurrenzkampf heraufbeschwört. Und warum es nicht nur lohnend, sondern auch gesund ist, gegen diese Erzählung anzuschreien
Zu Beginn der Pandemie hat der Satz „Leave no one behind“ – Niemanden zurücklassen, noch viel die Runde gemacht, in der Linken, aber auch darüber hinaus. Ein Satz, der aus der Kritik, aus der Wut über die menschenunwürdigen Verhältnisse in Moria und anderen Lagern an der europäischen Grenze heraus geboren worden war.
Aber nicht nur in Bezug auf die verachtenden und verachtenswerten Zustände dort, ist damals mit dem Niemanden zurücklassen ein Ruf nach einer solidarischen Pandemiepolitik, einer gemeinsamen Virusbekämpfung – ein Ruf nach einem Mitdenken all jener, für die dieses „Virusbekämpfen“ in all seinen Aspekten vielleicht mit größeren Hürden verbunden ist – aus vielen Kehlen laut geworden. Viel davon ist nicht mehr spürbar.
Stattdessen erleben wir, wie Erzählungen der Spaltung mehr und mehr überhandnehmen: eine Version der Geschichte, in der die Partikularinteressen vermeintlicher Interessensgemeinschaften als sich „natürlicherweise entgegenstehend“ stilisiert werden. Wirtschaft gegen Wissenschaft. Gastronomie gegen Gesundheitspersonal.
Diese Gegensätze sind künstlich
Dass sie in den Medien als solche aufgemacht werden, ist zwar bedauerlich, aber das wirkliche Versäumnis liegt bei einer Politik, die diese Diskurse, wenn nicht erschafft, dann zumindest fortschreibt. Und ja, ein Stück weit auch bei einer Linken, die es nicht schafft, hier einen glaubwürdigen, anschlussfähigen Gegenentwurf einer gemeinsamen Pandemiebekämpfung vorzuzeichnen. Mit Abstand Schulter an Schulter, sozusagen. Dabei dürfte das eigentlich gar nicht schwer sein.
Denn so sehr die Vereinzelung, welcher uns die kapitalistische Realität aussetzt, echte Partikularinteressen schaffen mag: in dieser Situation existieren sie nicht. Wir alle haben ein Interesse daran zu überleben. Und wir alle haben ein Interesse daran, dass unsere Liebsten überleben. Wir alle haben Angehörige und manche davon gehören bei uns allen zu vulnerablen Gruppen; sie sind chronisch krank, sie sind alt. Ob und wie sie durch diese Pandemie kommen, liegt an uns allen. Und es geht uns alle an.
Keine Babyelefanten im Schlachthof
Hier also bietet es sich an, den Startpunkt einer linken Kritik an der herrschenden Corona-Politik zu markieren. Und von da aus müssen wir zum Niemanden zurücklassen zurück.
Das ist für sich genommen nicht einmal eine linke Forderung, sondern das bloße Pochen auf die Einhaltung der Menschenrechte. Niemanden zurückzulassen heißt zuallererst Voraussetzungen zu schaffen, die ein verantwortungsvolles Handeln für alle möglich machen: Scheinselbständige, Menschen in Leiharbeit und allen voran undokumentiert arbeitende Menschen; Leute, für die die ohnehin schwächer werdenden Netze der sozialen Sicherheit nicht greifen, werden durch SARS-CoV2 vor schier unmögliche Entscheidungen gestellt. Bei Symptomen entweder Geld nach Hause bringen oder Kolleg*innen der Infektionsgefahr aussetzten? Gesundheit oder Job verlieren? Die Leute also, die die Arbeit machen, für die sich eine vorwiegend weiße, mitteleuropäische Mittelschicht zu gut ist, von der wir aber spätestens seit der Krise wieder merken, wie unverzichtbar sie für unseren Lebensstil ist; die Leute, die unsere Lebensmittel herstellen, sei es im Schlachthof oder als Erntehelfer*innen, die Leute, die unsere Großeltern betreuen, unsere Bürogebäude und Krankenhäuser sauber halten, all diese Menschen haben wir in der Pandemie systematisch zurückgelassen. Für sie gab es kein Homeoffice, keine unternehmensinternen Testprogramme, keine zusätzliche Kinderbetreuung, keinen Corona-Bonus, keine Babyelefanten.
Und nicht nur das: viele von uns werden sich an die „Informations“-Kampagne des österreichischen Integrationsfonds im April 2020 erinnern, als Migrant*innen in SMS darauf hingewiesen wurden, sie dürfen nur „um zu arbeiten, für dringende Einkäufe oder um zum Arzt zu gehen“ aus dem Haus gehen. Das Recht, zur sportlichen Betätigung oder um einfach an der frischen Luft zu sein, öffentliche Orte aufzusuchen wurde verschwiegen.
Geschwiegen wurde auch über die Situation in Betreuungseinrichtungen: seien es Wohngemeinschaften für Menschen mit besonderen Bedürfnissen, Notschlafstellen oder Quartiere für Geflüchtete. Sie haben nie die nötigen Mittel bereitgestellt bekommen, um einen Infektionsschutz zu ermöglichen, der den Namen auch verdient: Was sie an Corona-Strategien zur Verfügung haben, haben sie großteils der eigenen Initiative zu verdanken.
Systemrelevante Cluster
Was dieses völlige Ignorieren der Lebensrealitäten so vieler marginalisierter Menschen auslöst – Menschen obendrein, deren Arbeit das mittlerweile fast nur noch zynisch verwendbare Prädikat „systemrelevant“ tausendmal verdient hat – haben wir dann durch die Cluster bei Tönnies in Deutschland oder im Postverteilerzentrum in Wien-Erdberg schmerzlich vor Augen geführt bekommen. Angelegt und vorprogrammiert waren sie allerdings schon seit März 2020, als klar wurde, dass es für diese Menschen keine „Corona-Maßnahmen“ geben würde.
Das gewollte Vergessen und Zurücklassen, das wir erleben, ist eine infektiologische, wie auch politische Tragödie. Das Phänomen, dass auch Gesundheit in unserer kapitalistischen Gesellschaft unfassbar ungleich verteilt ist, ist weder neu noch pandemiespezifisch. Und auch im Hinblick auf SARS-CoV2 gilt die traurige Gesetzmäßigkeit, dass jene, die weniger haben, vulnerabler sind:
Für England, die USA und auch für Deutschland gibt es Daten1Wachtler B, Michalski N, Nowossadeck E, Diercke M, Wahrendorf M, Santos-Hövener C, Lampert T, Hoebel J: Socioeconomic inequalities and COVID-19 – A review of the current international literature. Journal of Health Monitoring 2020; 5: 3-17; https://edoc.rki.de/handle/176904/6997, die zeigen, dass niedrigere Einkommensschichten viel stärker von Coronavirus-Infektionen betroffen sind als höhere: Wenn man sich überlegt, dass ihre Berufe meist kein Homeoffice zulassen, dass sie auf beengterem Raum leben, dass sie häufiger an Grunderkrankungen leiden und dass sie schlechter an Gesundheitsversorgung angebunden sind, verwundert das auch nicht.
Ungleiche Sterblichkeit
Die Einschränkung der Präventionsmaßnahmen aufs Private und das Offenlassen vieler Wirtschaftszweige bedeutet also auch, dass diese Bevölkerungsschichten bewusst einem viel höheren Risiko ausgesetzt werden. Das schlägt sich auch in der Sterblichkeit nieder: Während hier für Österreich gute Zahlen fehlen weiß man, dass in Deutschland im Dezember und Jänner die Covid-19-Sterblichkeit in sozial stark benachteiligten Regionen um rund 50 bis 70 Prozent höher war als in bessergestellten.2Heinz J, Ogris G: Freiheitsindex 2020 und Follow-Up 2021; S.25; Abb 20 https://www.sora.at/fileadmin/downloads/projekte/2021_Bericht_Freiheitsindex_Oesterreich.pdf
Auch auf die psychische Gesundheit wirkt sich die Pandemie verschieden aus: Zu 53 Prozent geben Österreicher*innen im Bevölkerungsdrittel, das die niedrigste finanzielle Sicherheit genießt an, dass sich auch ihre psychische Gesundheit verschlechtert habe – dem gegenüber steht eine Verschlechterung bei 16 Prozent, aber auch eine Verbesserung bei 10 Prozent, im oberen Drittel.
So viel zum Thema, vor dem Virus wären wir alle gleich.