MALMOE

Über Feedback und Kontrolle

Hinweise für eine Kritik der Videokonferenz

Viel ist gesagt worden über den schielenden Blick, der sich durch die „Videoisierung“ des Sozialen in den letzten Monaten eingestellt hat und der jede im Medium der Videokonferenz stattfindende Interaktion einer ständig möglichen – instantanen oder nachträglichen – Selbstbeobachtung aussetzt. Nach nun über einem Jahr der Virtualisierung von Schulen, von Universitäten und von anderen sozialen Beziehungen, und nachdem sich also die in der Frühphase der Geschichte der Videotechnik so bezeichnete „Videosphäre“ in kurzer Zeit recht radikal erweitert hat, lohnt es, den Bildschirm-müden Blick (über den noch zu sprechen sein wird) durch ein paar genealogische Hinweise zu dieser Form der videotechnischen Selbstbeobachtung ein wenig zu schärfen. Dazu kann man – trotz aller medientechnischen Unterschiede zu heutigen digitalen Videoeinrichtungen – an experimentelle Erstkontakte mit dem elektronischen Medium Video erinnern.

Radical Software

In den späten 1960er Jahren bringt Sony mit seiner Portapak eine der ersten Videokameras für eine breite Käufer:innenschicht auf den Markt. Wenig später, im Frühjahr 1970, entwirft der Videokünstler Nam June Paik in einem Zeitschriftenartikel eine von den Möglichkeiten der Videotechnik her konzipierte Bildungsutopie. „Expanded Education for the Paperless Society“ heißt Paiks Text (der damit ein papierner Zeuge der Papierkritik der 1960er und 1970er ist). Dank neuer Videotechnik, so verspricht es Paik, wird sich bald jeder Bildungsakt, aufgenommen und gespeichert, überallhin verschicken lassen und diese Bildungsgeschicke werden auf lange Sicht eine „instant global university“ ermöglichen. – Man mag in solchen Ideen zunächst nicht mehr als die bekannte Euphorie der 1960er und 1970er Jahre über die Aussicht auf anarchische und progressive Zugriffe auf die Ressource Information ausgedrückt sehen. (Ein sehr ausdrückliches Zeichen dieser Euphorie ist der dem Titel von Paiks Beitrag nachgestellte, ein Kreuz einfassende kleine Kreis: ein dem Copyright-Symbol nachempfundener Marker, der so gekennzeichnete Texte zur beliebigen Kopie und Verbreitung freigibt.) Zu mehr als einem bloßen Zeugnis dieser Euphorie macht Paiks Text jedoch eine eindringliche Reflexion videotechnischer Möglichkeiten – eine Reflexion, die Programm der Zeitschrift ist, in deren erster Ausgabe er erscheint.

Radical Software bringt von 1970 bis 1974 Aktivist:innen zusammen, die sich in vielfältigen Beiträgen die Frage stellen, wie sich Videotechnik kritisch, künstlerisch und politisch einsetzen lässt. Neben den Verheißungen von – anders als im Fall des Fernsehens – nicht institutionalisierten Produktions- und Rezeptionssettings und den Speicher- und Verbreitungsmöglichkeiten von – Videotape sind es vor allem die durch gleichzeitiges Aufnehmen und Übertragen ermöglichten Feedbacks, an die sich Hoffnungen verschiedenster Art knüpfen. So findet sich bei Paik die Erwartung, solche Feedbacks würden eine neue, nämlich nicht lineare, selbstreflexive Art des Philosophierens ermöglichen: Es folgen dabei nicht Argumente auf Gegenargumente, sondern jede Äußerung wird aufgezeichnet und steht in ihrer audiovisuellen „Totalität“ zu sofortiger Kritik und Korrektur bereit. Andere Beiträge machen sich Gedanken über den therapeutischen Einsatz von Apparaturen aus Videokamera und Monitor als eines „Spiegels mit Speicher“, über den man mit Mustern des eigenen Verhaltens vertraut werden, oder sich schlicht in einer Vielzahl von Perspektiven und elektronischen Manipulationen verlieren kann: „Intensity comes to inhabit attention while concentration is relaxed. Reality and illusion do sixty-nine. The mind achieves clarity in the state of insanity.“ Und so sieht man gar qua „Self-Cybernation“ eine gänzlich neue Form der Subjektivität aufkommen, bei der, wie bei einem Möbiusband, das Äußere zugleich das Innere des Subjekts und das Innere sein Äußeres ist: eine Reihe von Selbstpraktiken also, die Video als Alltagsmedium annehmen und die sich unter dem in einem Beitrag zu Radical Software lancierten Motto versammeln lassen: „We must assume conscious control over the videosphere.“

Während man sich hier also das Video als Medium der Aneignung des eigenen Bilds, als Medium einer selbstreflexiven „Sorge um sich selbst“, als Medium eines sozialen Zusammenschlusses jenseits der durch das Fernsehen hergestellten audiovisuellen Übertragungswege und – nicht zuletzt – auch als Medium körperlicher Selbsterkundung vorstellt und anzueignen versucht, unterstellt man dem Medium Video schon früh einen strukturellen Narzissmus. Diese in den 1970ern von Rosalind Krauss aufgestellte Diagnose kann als zweiter genealogisch-anekdotischer Hinweis einer Kritik der Videokonferenz zuarbeiten.

Struktureller Narzissmus

Rosalind Krauss entwickelt ihre These an früher Videokunst wie Nancy Holts und Richard Serras Arbeit Boomerang. Solche Kunst ist auch dazu geeignet, der inzwischen alltäglichen Erfahrung, nämlich zu sprechen und sich gleichzeitig sprechen zu sehen, und hinter denen, die man da sprechen sieht, welche annehmen zu müssen, die sprechen, das Gespenstische zu entlocken. In einer recht simplen Installation wird bei Boomerang die im Close-up und mit fluoreszierend weißem, konturlosem Gesicht gezeigte Nancy Holt mit einem Feedback ihres eigenen Monologs irritiert, der ihr über Kopfhörer und nach einem Durchgang durch ein Aufnahmegerät elektronisch leicht zeitverzögert zugespielt wird. Der Monolog kreist um die Eigenheiten dieses zerstreuten Selbstverhältnisses: „It makes my thinking slower … I find that I have trouble making connections between thoughts … I have the feeling that I am not where I am … The words keep tumbling out because I want to hear them … The words become like things … I am throwing things out into the world and they keep boomeranging back.“ Statt Feedbacks in eine emanzipatorische Selbstpraxis einbauen zu können, wie es sich die Aktivist:innen von Radical Software versprechen, werden Nancy Holt ihre Worte zu Fetischobjekten, die man nur verliert, um sie nach ihrem Durchgang durch ein elektronisches Medium (in manipulierter Form) halb verstört, halb verliebt wiedergewinnen zu können. Ein solches Verhältnis zum Feedback, so deutet das Rosalind Krauss, stellt eine absolute Gegenwart her, die Subjekte wie zwischen zwei verzerrten Spiegeln einfängt.

Bei einer Kritik der Videoisierung des Sozialen wäre also an diese beiden Dimensionen zu denken: an die Verheißungen videotechnischer Selbst- und Kollektivpraktiken, wie sie in Radical Software Ausdruck finden, einerseits; an die Diagnose einer durch das Medium Video rekursiv und narzisstisch gewendeten Aufmerksamkeit andererseits. Wenn so zwei unterschiedliche Perspektiven auf Video-Feedbacks gewonnen sind, die sich gegenwartskritisch nutzbar machen lassen, könnte man sich im Anschluss fragen, was geschieht, wenn die Netzarchitektur die Eigenheiten solcher Feedbacks mitbestimmt. Was man auf den Begriff der „Zoom-Fatigue“ gebracht hat (die Erschöpfung, die sich nach Videofonien einstellt), wäre dafür ein erster Ansatzpunkt: Patches, mit denen auf dem Weg durch das Netz verloren gegangene Bild- oder Toninformationen ausgeglichen werden; kaum merkliche Asynchronitäten zwischen Bild und Ton; ein kurzes Einfrieren des Bildes: All das verrauscht die „kleinen Wahrnehmungen“, die als Feedback dienen, um das eigene Kommunikationsverhalten einem Gegenüber anzupassen. Muskelkontraktionen um Mund oder Augen, Mikroaffekte, die wir registrieren und spiegeln, werden durch Informationsverlust verwischt oder mit technischen Störungen verwechselt: Das Medium interferiert auf der Ebene der basalen Feedbackleistung sozialer Affekte. Und natürlich wäre genauer zu analysieren, wie jene Feedback-Mechanismen, die Video in den 1970ern zu einer verheißungsvollen Sozialtechnik gemacht haben, heute unternehmerischer Wertschöpfung dienen. Während man meinte, durch Videopraktiken in ein neues Selbstverhältnis treten zu können, blickt jetzt durch die Linse ein Unternehmen zurück.