Erkundung der unsichtbaren Welt der Entnetzung
Endlich ist sie da!, die Soziologie der Entnetzung, dachte ich, nachdem ich 2015 Urs Stähelis Artikel Entnetzt euch! (2013) gelesen hatte und infolgedessen darauf aufmerksam wurde, dass er an einem ganzen Buch zum Thema arbeitet. Denn der Mangel an kritischer Forschung zu Vernetzungsimperativen ist ein Thema, das mich auch in meiner Doktorarbeit zu Festivals beschäftigt hat. Stäheli ist Professor für Allgemeine Soziologie an der Universität Hamburg und für seinen Artikel von 2013 ließ er sich von der zeitgenössischen Kunst inspirieren, etwas das ungewöhnlich für die Soziologie ist und auch deshalb Eindruck bei mir hinterlassen hat. Darauf, wie Entnetzung im Alltag konkret aussehen könnte, ging er 2013 jedoch nicht ein. Und auch das 551 Seiten starke Buch entwickelt hier keinerlei Ambitionen. Im Klappentext heißt es: „Dieses Buch will weder besorgte Zeitdiagnose noch Entnetzungsratgeber sein“. Damals wie heute sei sein Anliegen, ein Vokabular zur Verfügung zu stellen, um Entnetzung zu verstehen und zu analysieren. Und hier muss ich ganz klar sagen: Das ist mir zu wenig.
Was die Leser:innen erwartet, ist ein Kapitel zu Netzwerkfieber und zu Zeitdiagnosen der Übervernetzung. Das zweite Kapitel beschäftigt sich mit Entnetzung in der Sozialtheorie, wo Bezug auf die Ideen von Bruno Latour, Niklas Luhmann (ein Spezialgebiet des Autors), Gilles Deleuze, Laclau & Mouffe sowie Georg Simmel genommen wird. Das dritte Kapitel stellt Figuren der Entnetzung vor, das sind beispielsweise der „Schüchterne“ oder das „Buffering“. Das letzte Kapitel widmet sich Feldern der Entnetzung, das sind hier „Entnetzung in Organisationen“, „Digitale Netzwerke“ und „Infrastrukturen“. Ein Fazit gibt es nicht, lediglich einen knapp vier Seiten langen Epilog.
Gerade beim letzten Kapitel, dessen Thematiken ich als außerordentlich relevant für die Gegenwart einstufe, macht es mich regelrecht sprachlos, dass sich der Autor nicht positioniert. Auch im Epilog erfahren die Leser:innen kaum mehr diesbezüglich. „Entnetzung und Vernetzung sind in Politiken der Sichtbarkeit und Unsichtbarkeit eingelassen […]“, und damit auch in Machtverhältnisse und Politiken der Ungleichheit, müsste ergänzt werden, sagt Stäheli aber nicht. Er möchte nur jenen, die sich strategisch mit Entnetzung beschäftigen wollen, das Rüstzeug, den Werkzeugkasten liefern. Und Willige müssen hier viel Zeit mitbringen, denn die Inhalte sind oft derartig abstrakt, dass man die Kapitel mehrfach lesen muss, um sich eine Meinung zu bilden und das Hilfreiche vom unnötig Verwirrenden zu trennen. Das macht das Buch aber auch nachhaltig, denn interessante Anregungen finden sich haufenweise, es eröffnet eine regelrechte Überfülle sehr verschiedener Beispiele, deren Einordnung und Bewertung größtenteils den Leser:innen überlassen wird. Ein gutes Buch, das nicht langweilig wird, aber die Abstraktionen und großen Theorien wirken manchmal ermüdend, da die Nähe zum Alltag fehlt – und damit zu den Menschen.
Urs Stäheli (2021): Soziologie der Entnetzung. Suhrkamp Wissenschaft, Berlin. 28,80 Euro.
Rezensiert von Bianca Ludewig
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Ideen einer solidarischen Stadt
Nachdem 2016 in Athen eine ganze Reihe von Häusern besetzt wurden und die Syrian Solidarity House Initiative entstanden war, konterkarierten deren Bewohner_innen das überkommene Bild der ‚bedürftigen‘ Geflüchteten, indem sie mit Nachbar_innen Lebensmittel teilten und Süßspeisen an Passant_innen ausgaben, ausdrücklich ohne dafür Spenden anzunehmen. Solche Praktiken als „Werkzeuge der Konvivialität“ durchbrechen das Narrativ humanitärer Arbeit und schaffen einen neuen Standpunkt: Die Geflüchteten revanchieren sich für die Gastfreundschaft, gehen aber über die Rolle des Gastes hinaus, indem sie sich selbst als Nachbar_innen bezeichnen: „anwesend, sichtbar und ansässig“. Dies ist nur eine von unzähligen Episoden, die ein neuer Band aus der Reihe transversal texts präsentiert, politisch kontextualisiert und theoretisch reflektiert. Dreizehn formal sehr heterogene Beiträge gehen der Stadt als Stätte der Solidarität auf den Grund und nehmen „Prozesse, Kämpfe, Infrastrukturen und Realitäten“ in den Blick, die versuchen, politischen Gegebenheiten, die samt und sonders auf anderen Ebenen bestimmt werden, konkretes solidarisches Handeln entgegenzusetzen.
Besonders spannend ist dabei die kritische Reflexion jener Begriffe, die sich nur scheinbar selbst erklären. So kann etwa ‚Infrastruktur‘, wie Sarah Schillinger zeigt, auf das Verständnis einer „Infrastruktur der Solidarität“ erweitert werden, „das sich aus sozialen Praktiken ergibt“; aber auch ‚Solidarität‘ selbst wird fragwürdig, wenn man Repräsentations- und Identitätspolitiken dekonstruiert, wie es Vassilis Tsianos vorschlägt, womit ein Bruch mit den „Narrativen der Fairness“ einhergehe und damit ein „Bruch mit der Solidarität sowie dem politischen Subjekt“.
Im Mittelpunkt des Bandes stehen Migration, Prekarität und Marginalisierung, deren Beziehungen zueinander sowie die Schwierigkeiten und Widersprüche solidarischen Handelns – so sehr, dass die titelgebende „Stadt“ zuweilen aus dem Blick gerät. Nicht alle Beiträge scheinen nämlich bewusst zu unterscheiden zwischen der Stadt als Ort und der Stadt als Bedingung, wie es etwa Serhat Karakayali in seinem Beitrag tut, der dezidiert die Unterschiede zwischen Stadt und Land in den Blick nimmt, die sich nach der kurzlebigen solidarischen „Euphorie“ des Sommers 2015 zeigten. Die Stadt steht in dem Band vielfach als Schauplatz auf einer Ebene mit ihrer Konstellation, sie ist „Ort und Stätte“ gleichermaßen wie „Knotenpunkt“, „Resonanzraum“, „Möglichkeitsort“ aber auch „Ort der Produktion von Differenz“. Hier hätte analytisch stringenter differenziert werden müssen – was aber dem Wert der Texte zur Autonomie der Migration und der „Ankunft“ als Gegenbegriff zu „Integration und Unterordnung“ freilich keinen Abbruch tut.
Niki Kubaczek und Monika Mokre (Hg.) (2021): Die Stadt als Stätte der Solidarität. Transversal texts, Wien. 15 Euro (oder als freier Download unter transversal.at)
Rezensiert von Ingo Pohn-Lauggas
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Schreiben als Empowerment
Auch wenn sein Name es nahelegt, in direkter Verbindung mit der Textgattung „erzählende Literatur“ stand das Wiener Projekt PROSA bis dato nicht. PROSA ist die Abkürzung für „Projekt Schule für alle“ und 2012 als Initiative zur Bildungsförderung junger Menschen mit Fluchterfahrung entstanden. Vor allem Jugendlichen mit laufendem Asylverfahren soll der Weg zu einem formalen Bildungsabschluss geebnet werden. Somit steht das Projekt nicht nur für Bildungsarbeit, sondern auch für Inklusion – und Empowerment: PROSA betont sein Anliegen, Diskriminierung entgegenzutreten und den Jugendlichen zu ermöglichen, sich kritisch und selbstbewusst in der Gesellschaft zu bewegen. Und diese Gesellschaft und die eigene Rolle darin literarisch zu reflektieren, kann ein wichtiger Schritt in Empowerment-Prozessen sein.
Der Sammelband Prosa für PROSA vereint nun Texte von jungen Menschen, die am PROSA-Programm teilnehmen oder teilgenommen haben. Die Idee hinter dem Band war eine „Ermutigung zu einem literarischen Schreiben, das frei von jeglicher Erwartungshaltung ist, sowohl thematisch als auch sprachlich“. Koordiniert und herausgegeben wurde er von Muhammet Ali Baş, Luca Manuel Kieser und Katharina Pressl, die sich als Trainer:innen bei PROSA engagieren. Katharina Pressl wird aufmerksamen Leser:innen der MALMOE bekannt sein, sie kuratiert die Literaturreihe „Alle müssen wohnen“ und davor „Frauen* schreiben Frauen*“.
Das Besondere von Prosa für PROSA liegt auf der Hand: Man hat es hier mit Texten zu tun, die üblicherweise wenig bis gar keine Öffentlichkeit erreichen. Die Perspektiven umfassen nicht nur die Flucht selbst – „Menschen mit Fluchterfahrung stehen häufig vor dem Problem, dass von ihnen erwartet wird, ihre Flucht zum Thema zu machen“, darauf verweist das Vorwort –, sondern alles Mögliche, was die Schreibenden beschäftigt: Schule, Beruf, Glaube, Sprache, Familie – oder natürlich das Leben in Zeiten der Corona-Krise. Neben Texten, die die Sicht der Schreibenden auf eben diese Dinge zeichnen, finden sich Schnipsel, die in nur wenigen Zeilen anhand eines Fotos eine Erinnerung aufleben lassen oder die Frage beantworten: Wer oder was ist mir wichtig?
Der Band ist Prosa voller Ehrlichkeit und Direktheit. Unverblümt wird über Herzzerreißendes wie die Sehnsucht nach der Familie im Heimatland als auch über Schreckliches wie Entbehrung, Raub und Entführung während der Flucht geschrieben. Dann wieder verweilt man bei einem Aphorismus wie: „Das Leben ist wie der Regen und die Momente sind wie Wassertropfen.“
Der Sammelband kostet zehn Euro, die Einnahmen kommen zu hundert Prozent PROSA zugute.
Muhammet Ali Baş, Luca Manuel Kieser, Katharina Pressl (Hg.) (2021): Prosa für PROSA. Literarische Texte für alle. Projekt der PROSA-Schule Wien. 10 Euro
Rezensiert von Jannik Eder