Der gesellschaftliche Umgang mit Behinderungen* und Elternschaft
Christine Steger ist Vorsitzende des Unabhängigen Monitoringausschusses zur Umsetzung der UN-Konvention über die Rechte von Menschen mit Behinderungen. Im Artikel 23 der UN-Konvention steht, dass Menschen mit Behinderungen* das Recht auf Elternschaft haben. Wir haben Christine Steger in Zoom getroffen und mit ihr über Vorurteile gegenüber Eltern mit Behinderungen* gesprochen.
MALMOE: Zwei Menschen mit Lernschwierigkeiten beschließen ein Kind zu kriegen – vor welchen Herausforderungen stehen sie?
Christine Steger: Die Frage impliziert bereits, dass der Staat mitreden will, wenn es um das Thema Eltern mit Behinderungen* geht. Wie sehr der Staat mitreden will, hängt davon ab, wie die Personen mit Lernschwierigkeiten leben (dürfen): Leben sie in einem Heim oder in einer Wohngemeinschaft? Gibt es eine Erwachsenenvertretung? Je mehr Fremdbestimmung da ist, umso mehr Fremdbestimmung gibt es natürlich auch beim Thema Assistenz bei Elternschaft.
Viele Dinge wie Sexualaufklärung, gynäkologische Vorsorge, Empfängnisverhütung usw. stehen für Menschen mit Lernschwierigkeiten nicht automatisch zur Verfügung. Nach wie vor werden viele Menschen mit Behinderungen* unfruchtbar gemacht, weil es von manchen Angehörigen, Erwachsenenvertreter_innen oder Ärzt_innen als Maß der Dinge gesehen wird. Warum? Provokativ ausgedrückt: Die Reproduktion von Menschen mit Behinderungen* ist in unserer Gesellschaft nicht erwünscht.
Ich habe immer wieder zu Elternschaft und Behinderung* Vorträge gemacht und bei keinem anderen Thema zuvor wurde ich mit so unverhohlenem Nazi-Sprech und Sozialdarwinismus konfrontiert: Die Annahme, dass sich Behinderung* auf jeden Fall reproduziert, ist sehr weit verbreitet. Von ihr ausgehend, wird es als unmögliches Ansinnen formuliert, Behinderung* zu reproduzieren und dann noch die Allgemeinheit mit den Kosten zu belasten, die entstehen, wenn diese Personen dann Unterstützung brauchen.
Wie schlagen sich diese Vorurteile praktisch nieder?
Menschen mit Behinderungen* sind immer mit Vorurteilen hinsichtlich ihrer Fähigkeiten konfrontiert. Bei Eltern mit Behinderungen* richten sich die Vorurteile auch auf die Erziehungsfähigkeit. Diese ziehen Jugendämter als Grundlage für die Bewertung heran, wenn ein Obsorge-Entzug im Raum steht. Dazu kommt noch, dass die Eltern vielerlei Unterstützungsangebote nicht nützen können, zum Beispiel sind die Programme der „Frühen Hilfen“ für Menschen mit Lernschwierigkeiten nicht offen. Auch gibt es nicht in allen Bundesländern Persönliche Assistenz für Menschen mit Lernschwierigkeiten.
Beim Obsorge-Entzug spielt die Problematik herein, dass manche Sachbearbeiter_innen in Ämtern ihre internalisierten Grundhaltungen in ihre Arbeit übertragen und ihre Vorannahme, dass ein Kind bei Eltern mit Behinderungen* schlecht aufgehoben sei, nicht reflektieren. Das gilt auch für manche Ärzt_innen: Es gibt Fälle, bei denen Ärzt_innen gleich nach der Geburt die Behörden informieren. In weiterer Folge kann es sein, dass Eltern mit Lernschwierigkeiten schon im Krankenhaus das Kind abgenommen wird – ohne dass Gefahr in Verzug festgestellt und ohne dass Unterstützung angeboten wurde.
Das ist ein grundsätzliches Problem: In vielen Gatekeeper-Situationen treffen Personen, die selbst per se nicht-marginalisiert sind und fachlich nicht ausgebildet sind, für Menschen mit Behinderungen* maßgebliche Entscheidungen. Im Medizinstudium spielt Behinderung* oft nur insofern eine Rolle, als dass sie geheilt werden muss. Behinderung* wird als Abweichung der Norm gefasst. Um damit zu brechen, ist es notwendig, dass medizinische Ausbildungen explizit auf non-ableistische Wissensweitergabe ausgerichtet werden.
Gibt es in Österreich einen Rechtsanspruch auf Assistenz bei Elternschaft?
Das kommt ganz darauf an, wir haben eine Kompetenzverteilung zwischen Bund und Ländern. Die Kinder- und Jugendhilfe sowie die Behindertenhilfe sind den Ländern überlassen. Das heißt, wenn man Pech hat, hat man neun verschiedene Systeme. In Deutschland etwa gibt es eine Grundsatzgesetzgebung, sodass die Länder grundsätzlich machen können, was sie wollen, der Bund aber den Mindeststandard vorgibt. Der Kanzler hat ja bewiesen, dass da eine Grundsatzgesetzgebung möglich ist, wenn er die Mindestsicherung regeln will. Ich bin der Meinung, dass es auch bei der Behindertenhilfe gehen könnte, aber dazu fehlt der politische Wille. In der Politik sind Menschen mit Behinderungen* ja höchstens eine Randnotiz.