Serhij Zhadans Roman Internat schildert auf unangenehm anschauliche Weise den Alltag der Menschen im unerklärten Krieg in der Ostukraine
Februar 2014: Im Zuge der Euromaidan-Proteste tauchen im Osten und Süden der Ukraine Soldaten auf, die sich das politische Chaos zunutze machen und Stück für Stück Gebiete unter ihre Kontrolle bringen. Woher sie kommen? Offiziell werden sie als „Separatisten“ bezeichnet.
Auch Zhadan vermeidet in seinem Roman klare Schuldzuweisungen, zwischen den Zeilen wird Leser*innen allerdings schnell klar, wessen Interessen die Separatist*innen vertreten. Schneller jedenfalls als dem Protagonisten Pascha, der sich als unpolitischen Menschen versteht und zu Beginn des Romans noch glaubt, sich nicht positionieren zu müssen, weil ihn das alles nichts angehe. Er ist Lehrer. „Ja, denkt Pascha, als er aus dem Haus tritt und die mit Hospitaldecken gepolsterte Tür hinter sich schließt, immerhin ein Staatshaushalt, immerhin Staatsangestellter.“ Er würde am liebsten zuhause bleiben und warten, bis alles wieder vorbei ist. Es gibt allerdings ein Problem: Sein 13-jähriger Neffe, Sohn der ungeliebten Schwester von Pascha, sitzt im Internat am anderen Ende der Stadt fest. Jemand muss ihn dort rausholen, bevor eine Katastrophe passiert. Paschas Vater, mit dem er zusammenwohnt, kommt nicht infrage, er ist zu alt. Ebenso wenig die Schwester, die als Nachtzugschaffnerin durchs Land tingelt und sich von der Familie in jeder Hinsicht distanziert hat.
Auch wenn es Pascha überhaupt nicht gefällt, sieht er ein, dass nur er seinem Neffen Sascha helfen kann. Eine lebensgefährliche und alles verändernde Reise durch „seine“ Stadt, die längst nicht mehr wiederzuerkennen ist, beginnt.
Dem Autor gelingt durch die Unterteilung des Romans in drei Kapitel (Erster, Zweiter und Dritter Tag) ein Spannungsbogen, die Leser*innen atemlos zurücklässt. Seine Sprache, der man anmerkt, dass sie den Gefilden der Lyrik entspringt („Der Januarmorgen ist lang und unbeweglich wie die Warteschlange in der Ambulanz“), schafft es, auch Darstellungen von exzessiver Gewalt und psychischer Folter in Bilder zu rahmen, denen man sich als Leser*in stellen kann.
Serhij Zhadan ist dem deutschsprachigen Lesepublikum seit 2007 ein Begriff, als sein Debütroman Depeche Mode erschien, in dem er auf zutiefst tragikomische Weise seine eigene Jugend in Charkiw (Ostukraine) Anfang der 1990er Jahre schildert und, wohl ungewollt, das Konzept des „New East“, das in der MALMOE 95 von Julia Portnowa analysiert und dekonstruiert wurde, mit ins Rollen gebracht hat. Seitdem sind zehn weitere Werke von ihm bei Suhrkamp erschienen. Romane, Lyrikbände, gesammelte Essays. Die Erfindung des Jazz im Donbass wurde von der BBC gar als „Buch des Jahrzehnts“ ausgezeichnet.
Obwohl er es sich in finanzieller Hinsicht ohne Zweifel leisten könnte, den Donbass zu verlassen und an einem sicheren Ort zu leben, hat sich Zhadan dazu entschieden, zu bleiben und die Leute vor Ort durch das Organisieren von kulturellen Veranstaltungen (Lesungen, aber auch Konzerte, nicht zuletzt seiner eigenen Skaband Zhadan i Sobaky, mit der er 2009 auch einen in guter Erinnerung gebliebenen Auftritt in Wien hinlegte) zu unterstützen, um den Alltag ein wenig zu erleichtern. In seinen Büchern geht es weder um Schuldzuweisungen noch darum, zu vermitteln, welchem politischen Lager er sich zugehörig fühlt. Vielmehr wird klargemacht, dass die Menschen, mit denen es Zhadan tagtäglich zu tun hat, jegliche Hoffnung auf Unterstützung durch die Politik verloren haben und wissen, dass sie sich, wenn überhaupt, nur selber helfen können. Diesem Wissen entspringt wiederum ein eigentümliches Selbstbewusstsein, ein Mut der Verzweiflung, den Zhadan sehr anschaulich und präzise in Worte zu fassen vermag.
„Das Licht wird immer mehr, es überschwemmt alles ringsherum, es gibt so viel davon, dass es alles erfüllt. Als würde das Leben nur aus Licht bestehen, als gäbe es in diesem Licht keinen Platz für den Tod.“
Serhij Zhadan (2018): Internat. Suhrkamp Verlag, Berlin. Selbstverständlich erhältlich im Stuwerbuch, Stuwerstraße 42, 1020 Wien.