Aus der Reihe: ku. & ko. Das phantastische Geschäft
Neben dem kleinen Park in der Seitenstraße liegt das wohl berühmteste Geschäft der Stadt. „Haben wir nicht, gibt’s nicht“, steht am Schild auf der Tür. Eben ertönt der Durchgangsmelder mit seinem wohlklingenden Glockenspiel. Jedoch ist es nicht die nächste Kundschaft, die das Lokal betritt, nein, Konrad verlässt schluchzend das Geschäft und stampft beim Schließen der Tür theatralisch auf. Noch bevor Kuna reagieren kann, steht Konrad schon wieder im Raum: „Eins sag ich dir: So nicht! Ich gehe!“ Kuna blickt vom Katalog auf, zieht die FFP2-Maske auf die Seite und sagt: „Ich weiß nicht, was du hast.“
„Was ich hab? Du bist unfair. Wir hatten es anders vereinbart!“, zetert Konrad.
„Wir hatten vereinbart, dass ich den Laden leite und du mich unterstützen kannst. Ich führe die Verkaufsgespräche und wenn ich ein Zeichen gebe, holst du das Zeug aus dem Lager. Ich verhandle mit den Großkunden und du machst den Kaffee.“
„Das meine ich ja. Das ist keine Partnerschaft auf Augenhöhe!“
„Augenhöhe … Ich hab nie von Augenhöhe gesprochen, sondern von Augenkontakt. Eine schaut hinunter, einer hinauf.“
„Du bist gemein. Ich verkörpere die menschliche Seite unserer Allianz und bin dein Executive Manager, hast du gesagt und …“
„Ich hab gesagt, du bist mein Anweisungen-exekutieren-Manager, und wenn dir etwas nicht passt, dann suche ich mir eben jemand anderen. In Zeiten wie diesen ist der Nachdrang ungebrochen. Aber ich muss auch sagen, mein lieber Konrad, ich bin sehr zufrieden mit dir. Und jetzt geh bitte auf die Seite, schau, eine Kundin möchte herein.“
Tatsächlich, hinter Konrad wartet schon seit geraumer Zeit eine Frau in einem gelben Regenmantel. „Ich such’ nichts Bestimmtes, es sollte nur fairtrade sein. Es ist für die Kinder.“
Während sich Konrad abwendet und zögerlich zum Ausgang geht, tänzelt die Regenmantel-Frau in Richtung Tresen, auf dem Kuna erste Artikel arrangiert hat. Kuna scherzt: „Fair! Meine Gute, das ist reines Marketing. Was Kinder lieben, ist etwas mit großer Gewinnspanne, aus heimischer Wertschöpfung – und süß muss es schmecken.“
Konrad umfasst den Knauf der Tür, dreht sich aber dann theatralisch zu Kuna. Aufs Menschliche zu zielen, der großen wie kleinen Leute, ist immer schon seine Stärke gewesen. Er lässt seine Rehaugen auf Kuna ruhen und seine buschigen Augenbrauen tanzen, doch Kuna ignoriert ihn und winkt die Frau näher: „Kommen Sie nur, ich glaub, ich hab genau das Richtige für Sie.“
„Sie Schelmin“, kichert die Frau im Regenmantel. „Es sollte aber auch gesund sein!“
Während sie hinter den Tresen springt, wo Kuna mit weit geöffneten Armen steht, schleicht Konrad niedergeschlagen durch den Regen, geht bis zum Ende der Gasse, blickt noch einmal zurück, ob Kuna ihn zurückholen möchte. Schließlich geht er in den Park. Am Spielplatz steigt er auf den Holzturm mit der Rutsche und setzt sich in eine Ecke. Der Regen trommelt auf das Dächlein. „Gewinnspanne, Kosteneffizienz, Fairness – wenn ich das aus ihrem Mund höre“, denkt Konrad verbittert. „Wenn ich diese Frau bedienen würde, dann bekäme sie etwas Selbstgestricktes, einen Pullover. Oder eine hausgemachte Marmelade aus gerettetem Fallobst. Das ist nicht billig. Aber lässt sich mittlerweile irrsinnig günstig in der Slowakei herstellen. Dann wär’s nur ein kurzer Transportweg. Das ist fair! Richtig nachhaltig! Und alle sind glücklich! Und für die Kinder ist das …“ Da vernimmt Konrad ein Tapsen über ihm. Er richtet seinen Blick nach oben und hält die Luft an. Erst zaghafte Schritte zwischen dem Prasseln der Regentropfen, dann ein sattes Plumpsen –und das Quietschen von Schuhsohlen auf der Rutsche. Ein Mädchen – in einer knalligen Gatschhose, deren Träger pfiffig schräg über einer Schulter verknotet sind – tritt aus den peitschenden Regenkaskaden. Es winkt verstohlen und bleibt auf halbem Weg zu dem in der halbdunklen Ecke des Holzturms kauernden Konrad stehen. „Du stehst auf Samira“, versetzt es vorwurfsvoll und deutet mit dem Zeigefinger auf seine Füße. Und tatsächlich, ein Puppenärmchen lugt zwischen Konrads rindenmulchverschmierten, erdbefleckten Stiefeln hervor. Konrad tritt zur Seite, bückt sich nach dem verdreckten Spielzeug und murmelt: „Verzeihung, das ist nicht meine Art. Das lässt sich sicherlich schnell abputzen.“ Doch jeder Versuch, den Schmutz zu beseitigen, scheitert kläglich. Konrad wischt immer schneller, bis der letzte Erdklumpen in die grobe Faser der Puppenkleidung einmassiert ist. „Da ist nichts mehr zu retten“, schluchzt Konrad und reicht dem stumm beobachtenden Mädchen die Puppe. „Dabei schlägt mein Herz für alle Kinder!“ Das Mädchen umarmt die Puppe, herzt sie kurz und legt dann ihren Zeigefinger behutsam auf Konrads Wange, auf der sich ein zartes Rinnsal bildet. „Alle Tränen sind salzig. Doch wir Kinder fühlen viel tiefer als ihr“, flüstert sie tröstend.
„Kooonrad, Koonrad!“ Kunas Rufen durchschneidet die Stille, die sich über die beiden gelegt hat. Ein hastig schwenkender Lichtkegel nähert sich, durchstreift die Spielgeräte und verharrt auf dem Spielturm. „Mein lieber Konrad, da bist du ja. Bitte sei nicht länger sauer. Ich hab der Frau unser gesamtes Erythrit-, Stevia- und Birkenzuckersortiment angedreht, fast ein ganzes Lastenfahrrad voll.“ Sie reibt die Hände und hantelt sich dann an den Sprossen an der Unterseite der kleinen Spielplatzbrücke entlang. „Unsere Stärke, mein liebster Juniorpartner, liegt eindeutig im ‚success‘.“ Jetzt balanciert Kuna mit Leichtigkeit auf den kleinen Holzstümpfen des Geschicklichkeitsparcours, was angesichts des gießenden Regens an ein Wunder grenzt. „Untereinander dürfen wir uns auch mal sekkieren, aber nach außen, da strahlt’s, da sind wir Eintracht Victoria!“
Konrad möchte protestieren und ihr jäh ins Wort fallen, doch da zwängt sich Kuna in das Innere des Holzturms. Einen Augenblick lang mustern sie sich, dann fasst Konrad neuen Mut. „Kuna, ich möchte dir wen vorstellen“, wispert er. „Das ist …“ Er lässt seinen Blick schweifen, greift beherzt nach Kunas Taschenlampe, leuchtet jeden Winkel aus – und kann das Mädchen doch nicht erblicken. „Eben war sie noch hier, ganz sicher.“
„Du bist mir doch der liebste Tag- und Weltenträumer“, scherzt Kuna und knufft Konrad in die Seite, „das schätze ich wirklich an dir.“
Konrad mustert fassungslos das Innere des Holzturms.
„Komm wieder ins Geschäft, tu es für mich“, haucht Kuna und hakt sich bei Konrad ein. Dieser nickt behäbig und beginnt durch den Rindenmulch zu schlürfen, aus welchem, von den beiden unbemerkt, ein Puppenärmchen ragt.