Was versteckt sich hinter der Forderung nach einem Archiv und Museum der Migration in Österreich?
Im Februar 2020, zwei Wochen vor der ersten coronabedingten Ausgangssperre, eröffnete das Kollektiv MUSMIG (Museum der Migration) in der Galerie Die Schöne in Wien die Ausstellung Die Geburt des Museums der Migration. Vorübergehend war das der letzte Akt in einer langen Reihe von Bemühungen zur Historisierung der Migration in Österreich. Die Linie, die zur dieser Ausstellung führte, beginnt in Österreich in den 1990er Jahren.
In der zweiten Hälfte der 1990er haben wir in der politisch antirassistische Szene festgestellt, dass es ein Subjekt gibt, von dem alle reden und für dessen Rechte sich alle einsetzen, dessen Geschichte wir aber gar nicht kennen. Das passierte nach dem großen politideologischen Debakel 1993, bekannt unter dem Namen „Lichtermeer“, bei der eine moralisierende Sicht auf Antirassismus hegemonial wurde. Ausgehend davon stellten wir die Fragen: Wer sind eigentlich die Migrantinnen und Migranten? Wann sind sie hierher gekommen und woher? Wo waren sie damals bei der Ankunft? Warum kennen wir keine Orte, keine Räume, keine Stellen, wo sich ihre Geschichte ereignete? Wie können wir in einem politischen Kontext überhaupt über Migration reden, wo wir eigentlich kein historisches Wissen über diese Menschen haben?
Es gab diese Menschen – wir selber gehörten ja auch teilweise dazu –, für deren Rechte wir uns einsetzten. Aber wie sie nach Österreich gekommen waren und was ihnen hier alles wiederfahren war, konnte nur im privaten, familiären Rahmen erfahren.
Es gab migrantische Vereine, mit denen wir – meine Perspektive war damals diejenige der Ausländerberatungsstelle und politisch denkenden Sozialwissenschaften – gearbeitet haben, aber wir (und auch sie) wussten wenig über die historischen Abfolgen und die Gründung der Vereine: Wer hat sie organisiert, was waren die Ziele zur Gründung? Wann haben sie sich überhaupt konstituiert? Aus welchen Problemlagen und in welchen raumzeitlichen Gegebenheiten? Warum sind ihre Mitglieder hierher gekommen? Welche Differenzen bestanden zwischen ihren Angehörigen und auch zwischen diesen und anderen Vereinen und was gab es für Spannungen zur Zivilgesellschaft? Warum sind manche bis zu Dachverbänden organisiert und wieder andere weisen eine extreme politische Differenzierung auf, von rechtsnationalistischen bis zu leninistisch-linken Vereinen? Die Vorgeschichte, die zu diesem Moment der heutigen Fragestellung führte, wo wir uns gegenüberstanden und diverse politische Manifestationen organisierten, war nirgendwo präsent, geschweige denn ausgestellt. Das führte zu einer verstärkten Thematisierung. Anfänglich in Form von Texten in der politisch, antirassistischen Szene zugänglichen Medien: Die Bunte Zeitung wurde 2000 gegründet, MUND – der Emailnachrichtendienst des Protestes gegen die schwarzblaue Regierung –, in dessen Redaktion ich saß, wurde täglich an 4000 Emailadressen geschickt. Die Zeitschrift Kulturrisse erschienen mit einem neuen Fokus, ebenso MALMOE, Kurswechsel, Context XXI und derivé, die freien und alternativen Radios – kurz, eine alternative und mehr an den politischen als an Mainstreamideen interessierte Medienlandschaft bildete sich heraus.
Überhaupt bestand ein verstärktes Interesse an diesem Thema, weil es in den 1990er Jahren in Österreich eine verstärkte Offensive von rechten, konservativen, nationalistischen und rassistischen Kräften in der Gesellschaft gab. Diese mündete im Jahr 2000 in die erste Koalition zwischen der nationalliberalen FPÖ und der wirtschaftsliberalen ÖVP.
Im Zuge dessen organisierte sich eine breite außerparlamentarische Opposition, Themen wie die Lage der Migrantinnen und Migranten, gegen die rechtskonservative Kräfte in der Gesellschaft wetterten und die sonst kaum Zugang zur Öffentlichkeit fanden, wurden plötzlich von Interesse für eine breitere außerparlamentarische politische Szene. Es kam zu einer Explosion des Diskurses und das Thema Historisierung der Migration gewann mehr und mehr an Konturen, u.a. auch in der vom politischen Antirassismus entwickelten Forderung nach (Selbst-)Historisierung.
Erste öffentliche Verdichtung
Zur ersten großen öffentlichen Verdichtung dieser diskursiven Strömung kam es dann im Jahr 2004 mit der Ausstellung Gastarbajteri. Die Idee dafür gab es schon im Jahr 2001, erste Vorarbeiten begannen 2002, realisiert wurde die Ausstellung schließlich vom 22.01. bis 01.04.2004 im Wien Museum. Wir lebten damals in einer Zeit, in der in der breiten Öffentlichkeit eine permanente Kulturalisierung, Psychologisierung, Pathologisierung sowie Infantilisierung der Migrantinnen und Migranten vorherrschend war.
Aus der Perspektive der Mehrheitsbevölkerung waren die Migrantinnen und Migranten alles andere nur nicht wie sie selbst und erst recht keine autonomen, politischen
Subjekte.
Über die „Ausländer“, „Fremden“, „Zuwanderer“, „Einwanderer“ – damals begann auch das Gerede vom „Migrationshintergrund“ – wurde permanent gesprochen. So waren sie in repräsentativen Demokratien auf eine passive Position in der Gesellschaft verwiesen. Gewissermaßen die Abfallprodukte der Repräsentativität von Staatsbürger_innen und, hegelianisch ausgedrückt, deren Negativität. So damals und so auch noch heute.
Wir haben es mit der Ausstellung zumindest für eine kurze Zeit geschafft, das Thema Migrationsgeschichte jenseits von Kulturalisierung und mehr entlang der Arbeit, des Wohnens und der politischen Betätigung etc. zu platzieren. Im Zentrum standen die Migrantinnen und Migranten als handelnde Individuen, als diejenigen, die sich in der Geschichte entlang der Gegebenheiten von Unrecht zurechtfinden müssen und auch darum bemüht sind, die eigenen Möglichkeiten, inklusive der Erweiterung der eigenen Rechte zu erkämpfen.
Abarbeiten an der Kontinuität
Unser Anliegen war es damals, an den Kontinuitäten der Geschichte von denjenigen Menschen und deren Organisationszusammenhängen, die nicht Teil einer großen nationalstaatlichen Erzählung – genannt Österreich – sind, zu arbeiten. Kontinuität ist etwas, das im Bereich Migration in vieler Hinsicht fehlt: Alles, was in einem Migrationsprozess abläuft, ist diskontinuierlich und/oder wird durch das Wirken seitens der staatlichen Bürokratie aktiv unterbrochen und diskontinuiert. Oft wird den Migranten und Migrantinnen Mobilität zugesprochen. Aber wenn wir das genauer betrachten, werden wir feststellen, dass diese Menschen eine der immobilsten Gruppen in der Gesellschaft sind. Die Diskontinuität im Leben wird bewirkt durch die Befristungen von Aufenthalts- und Arbeitsbewilligungen und deren Koppelung an diverse Bestimmungen, beispielsweise in letzter Zeit sehr stark an Kenntnisse der deutschen Sprache. Früher war die Beschäftigungsbewilligung mit der Aufenthaltsbewilligung verknüpft, und umgekehrt natürlich auch. Ein perfides bürokratisches Spiel, weil die eine dann erlosch, wenn die andere nicht mehr verlängert werden konnte.
Die Menschen leben so in einer permanent instabilen Situation, eine die sich von heute auf morgen durch das Einwirken der höheren Gewalt der Bürokratie ändern kann. Diese bürokratischen Instrumente haben die Funktion, die Lebensgeschichten der Migrantinnen und Migranten den Verwaltungen so verfügbar wie nur möglich zu machen. Wollen wir also eine Geschichte der Migration erzählen, müssen wir eine Geschichte schreiben, die biographische und organisatorische Brüche als deren Bestandteil anerkennt und sich einem größeren Zusammenhang als dem des Nationalstaates verschreibt. Migration erinnern heißt, dass es darum geht ein breiteres historisches Dispositiv, in Form einer Weltgeschichte, sichtbar zu machen.
Was heißt Kontinuität herstellen unter dem Aspekt einer Historisierung? Vor allem heißt es, einen Ort und einen Raum zu haben, wo die geschichtlichen Artefakte – und es gibt Tausende und Abertausende solcher Objekte der Migration, die eine eigene Geschichte erzählen – gesammelt, aufbewahrt und zugänglich gemacht werden. Sodass nicht jeder Mensch, der sich damit zu beschäftigen beginnt, von vorne anfangen muss. Es geht auch darum, die Vergangenheit als Kontinuum von Akteurpositionen zu verstehen und darzustellen, und sie denjenigen, die aus verschiedensten Gründen daran interessiert sind, zur Verfügung zu stellen. Kontinuität im Bereich Migration herstellen heißt nichts anderes, als über Jahre und Jahrzehnte alles, was Migration als einer der wesentlichen Entwicklungsprozesse unsere Gesellschaft ausmacht, zu sammeln. Ganz basal und einfach und trotzdem, wie es scheint, nahezu fast unmöglich.
Der letzte Knotenpunkt
Ein weiterer Schritt, der zu der Ausstellung Die Geburt des Museums der Migration führte, war die Kampagne Für ein Archiv der Migration, jetzt! aus dem Jahr 2012. In der Zeit zwischen Gastarbajteri und der Kampagne sind viele Texte erschienen. Das Thema „Politischer Antirassismus“ wurde in der Öffentlichkeit diskutiert und damit natürlich auch das Strategem der (Selbst-)Historisierung. Migrationsgeschichte hat in verschiedenen gesellschaftlichen Bereichen verschiedenste Bedeutungen. In der politischen Auseinandersetzung, wo es um das Erreichen der formalen Gleichheit geht, bringt sie einen taktischen Vorteil, weil ein politisches Subjekt die Kraft seiner gegenwärtigen kämpferischen Vorgangsweisen unter anderem auch aus dem erlittenen Unrecht und aus Versuchen, diesem etwas entgegenzustellen, schöpft. Im Bereich der Kultur wird Migration vor einen viel breiteren Horizont, nämlich demjenigen der Geschichtswissenschaften, gestellt. Und in anderen Bereichen, wie der Ökonomie oder der Kunst, hat sie wiederum ein eigenes Profil und andere Entwicklungsszenarien. Die Kampagne dauerte zwei Wochen. Im Anschluss haben wir den Arbeitskreis Archiv der Migration initiiert, um ein eigenes Archiv in Österreich zu gründen. Aus dieser politisch-kulturellen Dynamik heraus ist von der Magistratsabteilung 17 in Wien (Integration und Diversität) das Projekt Migration sammeln ausgerufen worden. Da ging es darum, für (das war seitens des Wien Museums ein angesagtes Wording) das Wien Museum Objekte von Gastarbeiter_innen zu sammeln. Aus diesem Projekt ist ein lesenswertes Buch mit dem Titel Schere Topf Papier – Objekte zur Migrationsgeschichte hervorgegangen. Für die Beschaffung der Objekte waren wir der Institution gut genug, für deren öffentliche Präsentation dann aber nicht mehr. Eben Gastarbeiter_innen.
Die Geschichte ist noch immer die gleiche und ihre strukturellen Gegebenheiten und vorgesehenen Ausschlüsse haben, im Großen und Kleinen, noch immer die gleichen Auswirkungen.
Die Ausstellung Die Geburt des Museums der Migration war somit nur eine weitere Verdichtung des Vorhabens der Historisierung der Migration. Die Idee dafür war einfach: Wenn wir schon kein Museum der Migration haben, dessen Aufgabe es wäre, Ausstellungen zu machen, dann machen wir eine Ausstellung über ein Museum der Migration, das selber aus Ausstellungen besteht, die in diesem Museum hätten gezeigt werden können (und auch sollen). Was im Vordergrund unserer Ausstellung stand, war das Thema der (Selbst-)Historisierung. Es ging uns darum, die vielfältigen Ausstellungsproduktionen der letzten Jahre, die auf die Initiativen von einzelnen Migrantinnen und Migranten und deren Vereinen, entstanden sind, einmalig in einem breiteren zusammenhängenden Kontext zu zeigen. Und das bevor sie wieder einmal für längere Zeit in den Kellern bzw. Abstellkammern von den Kuratorinnen und Kuratoren verschwanden.
Und wohin geht die Reise? Wie immer geht es allgemein darum, die großen Begriffe der Gerechtigkeit, Gleichheit und Freiheit zu entdecken, ihnen neue Kraft zu verleihen und die Praxis entlang deren Realisierung zu gestalten. Die Historisierung, ein Blick auf die Geschichte, ist eine Möglichkeit, die vielen Wege, die in diese Richtung eingeschlagen wurden, in unsere diskursive Gegenwart aufzurufen. Was daraus und damit auf der unmittelbaren inidviduellen und kollektiven Ebenen gemacht wird, ist eine Sache der vorherrschenden Verhältnissen.