Arditi del Popolo
Vor etwa hundert Jahren entstand der Faschismus als politische Ideologie und wurde in Italien bald wirkungsmächtig. Der antifaschistische Widerstand ging mit diesem Aufstieg einher und so finden sich ebenso lange schon Menschen, die sich aus Notwehr oder Solidarität dem Straßenterror, der ein wesentliches Merkmal jedes faschistischen Regimes ist, entgegenstellen. Eine der ersten Gruppen, die sich mit großem Einsatz und guter Bewaffnung wehrte, waren die in Österreich nahezu unbekannten Arditi del Popolo. Entstanden im Juni 1921 aus einer Abspaltung des italienischen Veteranenverbandes, in dem sich ehemalige Kriegsteilnehmer des Ersten Weltkrieges organisierten, umfasste die Organisation zu Beginn über 20.000 Mitglieder in 144 Sektionen in ganz Italien. Arditi waren ursprünglich Eliteeinheiten der italienischen Armee, die für besonders riskante Operationen eingesetzt und während des Krieges als schneidige Helden inszeniert wurden.
Der Autor vorliegender Einführung zum Thema ist Andreas Staid, Historiker und Anthropologe an der NABA, einer privaten Kunstuniversität in Mailand. Das Buch erschien im Original 2015 und liegt nun dank des Verlags Edition AV übersetzt vor. Staid beginnt mit einer Literaturübersicht und der Vorstellung der wichtigsten Theoreme über Ursachen, Motivation, Erfolg und Scheitern der Gruppe. Es folgen eine Darstellung der Gründe, warum sowohl die Sozialistische als auch die Kommunistische Partei Italiens die Gruppe ablehnten und eine Auswertung der Texte der Arditi, die sich in ihren Zeitungen, Flugblättern und Reden artikulierten und ihre Strategien selbst erklärten. Staid stellt die optischen Erkennungsmerkmale und die Symboliken der Gruppe vor, selbst das Liedgut jener antifaschistischen Soldaten kommt nicht zu kurz: Die Melodien von Liedern wie Bandiera Nera oder Figli dell’ officina werden annotiert, samt deren poetischen und leidenschaftlichen Texten. Im letzten Kapitel wird der Barrikadenkampf in der Stadt Parma in der Emilia-Romagna gegen faschistische Rollkommandos im August 1922 als exemplarisches Beispiel einer Schlacht analysiert. Trotz einiger lokaler Erfolge gerieten die Arditi del Popolo jedoch bald in eine unhaltbare Lage und galten 1924 als zerschlagen. Zeitzeugenberichte aus einer Dokumentation von 1983 geben den Protagonisten und ihren Erinnerungen Raum und vermitteln intensiv, wie die militante antifaschistische Praxis in jenen Jahren aussah.
Übersetzungen aus dem Italienischen gelten allgemein als schwierig, doch Johanna Wintermantels Text liest sich mit Fortdauer des Buches immer flüssiger. Zahlreiche Keywords belässt sie im Original und erklärt diese in Fußnoten. Zudem stellt sie dem Buch ein kontextualisierendes Vorwort voran. Eine Fotostrecke am Ende des Buches zeigt zahlreiche, aus Polizeiakten stammende Porträts samt Kurzbiografien von Mitgliedern der Arditi del Popolo in Parma und einige Bilder der Barrikaden in der Stadt. So vereinen sich akademische Forschung, politische Interpretation und authentische Stimmen und Bilder zu einer gelungenen Würdigung jener entschlossensten Feinde von Mussolini, erschienen bei einem anarchistischen Verlagsprojekt.
Andrea Staid (2020): Arditi del Popolo. Der erste bewaffnete Widerstand gegen den Faschismus in Italien 1921–1922. Aus dem Italienischen von Johanna Wintermantel. Edition AV, Bodenburg. 16,50 Euro
Rezensiert von Rudi Gradnitzer
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FeindInnen im „Volkskörper“
Mit diesem Buch legen die Autorinnen ihre zweite Arbeit zur geschlechtsspezifischen Verfolgung von als „asozial“ stigmatisierten Frauen im Nationalsozialismus vor. Unmittelbar anschließend an das 2019, ebenfalls im Mandelbaum Verlag erschienene Buch Verfolgung von Frauen als „Asoziale“ im Nationalsozialismus. Hier wird bereits ausgeführt, wie die nationalsozialistische „Rassifizierung“ Frauen als „asozial“ definiert. Dies geschieht primär anhand zweier Hauptstränge: auf Grund der ihnen zugeschriebenen Sexualität, was mit Unterstellungen einer „zügellosen Triebhaftigkeit“ oder eines „liederlichen Lebenswandels“ einhergeht. Und hinsichtlich einer unterstellten mangelhaften Arbeitsmoral. Welche auch Männern zugeschrieben werden konnte, die dann aus dem Bild des Familienernährers herausfielen, während Frauen sich aber durch mangelnde Arbeitsleistung unmittelbar an der „Volksgemeinschaft“ vergingen.
In der, als erweiterte Fortsetzung einzuordnenden Publikation führen die Autorinnen nun aus, wie sich die Konstruktionen der „Asozialität“ in den österreichischen Gauen vollzog. Die Autorinnen zeichnen die Institutionalisierung der Verfolgung nach und zeigen, an welchen Orten sich diese manifestierte. Das Konstrukt der „Asozialität“ wurde durch Gesetze, Erlasse, Verordnungen etc. definiert und so zu einem lebhaften Feindbild ausgestaltet, das es durch behördliche Verfolgung wieder einzufangen galt. In den unterschiedlichen Gauen wurden Frauen teilweise in geschlechtsspezifischen Arbeitsanstalten ausgebeutet, andere Gaue kannten diese Form nicht und inhaftierten sie in Zuchthäusern. Ein weiterer Schwerpunkt des Buches ist das Verhältnis der Verfolgungskategorien „asozial“ und „kriminell“, Zuschreibungen, die sehr oft zusammen genannt werden. Hier arbeiten die Autorinnen eine geschlechtsspezifische Unterscheidung heraus. Während Frauen abweichendes Verhalten als Devianz angekreidet wurde und sie häufiger als „Asoziale“ in den Konzentrationslagern gefangen gehalten wurden, wurden Männer eher als delinquent, als so genannte „Kriminelle“, verfolgt.
„Asoziale“ wurden zum „inneren Feind“ im „Volkskörper“ gemacht, ein Feindbild, das dem Primat der biologistisch-rassistischen Ideologie folgte: In das Projekt der „Reinigung des Volkskörpers“ waren eine Vielzahl von Institutionen eingebunden. Ob Fürsorgebehörden oder Gesundheitsämter, die Polizei oder Krankenanstalten, das Arbeitsamt und insbesondere die RassenideologInnen: Sie alle beteiligten sich an der Definition und Markierung derer, die sie aus der „Volksgemeinschaft“ hinausdrängen wollten. Den Menschen, die hiervon betroffen waren, widmet sich das letzte Kapitel in soziographischen Daten. Auf den vorhergehenden Seiten werden immer wieder individuelle Verfolgungsgeschichten beleuchtet. Die meisten dieser Biographien sind anonymisiert, da die Stigmatisierung der Opfer der „Asozialen“-Verfolgung nach 1945 nicht endete und ihnen eine Anerkennung als Opfer des Nationalsozialismus bis ins Jahr 2005 verwehrt wurde.
Helga Amesberger, Brigitte Halbmayr, Elke Rajal (2020): Stigma Asozial. Geschlechtsspezifische Zuschreibungen, behördliche Routinen und Orte der Verfolgung im Nationalsozialismus. Mandelbaum, Wien. 29 Euro
Rezensiert von Astrid Hanisch
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Pandemie-Panorama in 20/20-Vision
Ein Jahr Corona – ein Jahr im Heimkino. Den ersten Lockdown im Frühjahr 2020 nahm Filmtheoretiker Drehli Robnik zum Anlass, mit Ansteckkino eine kleine Geschichte des Pandemiefilms zu schreiben. Anhand zahlreicher philosophischer Einsätze geht es jedoch um weitaus mehr als nur eine Aufzählung aller Pest- und Pockenfilme. Der Idee folgend, „Zeit-geschichte als Streit-geschichte“ zu verstehen, verhandelt Robnik anhand von 167 Filmen das Näheverhältnis von Film, Geschichte und politischer Gegenwart. Behilflich bei diesem essayistischen und wortspielreichen Durchstreifen der Seuchenfilmgeschichte ist der begriffliche Einwurf der „Film-Wahrnehmung“. Denn in den Filmen ereignet sich Politik, die wahrnehmbar gemacht werden will und die darüber hinaus einen Blick auf die pandemische Wirklichkeit, unseren Alltag in dieser und die darin verfangenen gesellschaftlichen Konflikte und Spiegelungen im Kino ermöglicht. Robnik verfolgt ganz in Referenz zur Filmtheorie Siegfried Kracauers einen kritischen Ansatz, der von den Filmen selbst ausgeht, von den Potentialen und Spannungen des „Gesehenen zum Ungezeigten“.
Das Ansteckkino ist daher weder als ein Filmgenre und noch weniger durch Typologien zu verstehen als in Bezug auf die Frage, inwiefern sich in den Filmen Politik äußert – oder mit ihnen Politik gemacht wird. Von moralisch-biblischen Bestrafungsnarrativen (Pest in Florenz, 1919) über völkische Infektionsängste in Nazi-Bio-Pics (Robert Koch, der Bekämpfer des Todes, 1939) und Ansteckungsparanoia im Film Noir (The Killer that stalked New York, 1950) bis zu Gesellschaftszerfall und medialer Viralität (Contagion, 2011). Das Pandemiekino ist voller politischer Konflikte.
Immer wieder werden Antisemitismus, Rassismus, Angst- und Biopolitik inner- und außerhalb der Filme aufgespürt. Die assoziierten Parallelen zwischen den Geschehnissen des letzten Frühjahrs und den Infektions-Fiktionen geraten dabei wunderbar plastisch. Wenn ein smarter Filmarzt überraschten Teens „contract tracing“ anrät (Stigma, 1972), die Impfgegner*innen und Wutbürger*innen sich bewaffnen und gewiefte Geschäftsmänner einen Profit aus der Massenpanik schlagen (Die Hamburger Krankheit, 1979), dann versammeln sich die Ausnahmezustände und politischen (Un-)Gleichzeitigkeiten auch außerhalb der Diegese. Die Filmauswahl bietet nicht nur eine breite filmhistorische Perspektive zwischen Stummfilm und Stream, sondern reflektiert ebenfalls die Verortung des Ansteckkinos, wenn postkoloniale Kritik an der europäisch-amerikanischen Whiteness des Pandemiefilms und der eigenen Filmauswahl erprobt wird. „Selbstanklagepathos beseitigt keine Ausschlüsse“, heißt es und doch gibt uns das Buch eine Perspektive auf nicht-westliches Kino: eine Fledermaus als Überträgerin in Indien (Virus, 2019) und infektiöse Zombies in Venezuela (Infección, 2019).
Insbesondere die im Frühjahr 2020 hervorgebrachten gegenwartsanalytischen Debatten über die zu erwartenden gesellschaftlichen Auswirkungen der Pandemie erfahren indirekt eine gelungene Kritik (von der treffenden Polemik gegenüber den zahlreichen jenseitigen Kanzler-Bonmots ganz abgesehen). „Vielleicht kommt der Faschismus oder auch gar nichts“, schreibt Robnik am Ende. Dieses Buch und die Filme bleiben jedenfalls, um eine „neue Normalität“ kritisch wahrzunehmen.
Drehli Robnik (2020): Ansteckkino. Eine politische Philosophie und Geschichte des Pandemie-Spielfilms von 1919 bis Covid-19. Neofelis Verlag, Berlin. 16 Euro
Rezensiert von Jan-Hendrik Müller